Der alte Mann

Ich drehe mich um und sehe einen alten, hageren Mann vor mir, der nicht unfreundlich wirkt, dessen Augen mir aber verraten, dass ich hier nicht unbedingt erwünscht bin.

„Was geht hier vor?“ frage ich und eröffne damit das Gespräch. Meine Nacktheit habe ich vollkommen vergessen.

Mein Gegenüber ist von der offensiven Frage überrascht und antwortet: „?????? ????! Sie sind Deutscher?“
„Ich bin Überlebender eines Flugzeugabsturzes und aus einem Kloster durch einen unterirdischen Gang hierher gelangt.“ Meine Antwort überrascht ihn nicht, und er erklärt:
„Viele Menschen kommen auf diese oder eine ähnliche Weise hierher. Diese Frauen hier stammen aus einem Zugunglück. Wir führen Experimente mit ihnen durch, die der Sowjetunion neue Erkenntnisse verschaffen sollen.“
Diese Offenheit lässt mich aufhorchen: würde man mich mit diesen den Staat doch sehr kompromittierenden Informationen einfach wieder meines Weges gehen lassen? Der ältere Mann scheint meine Gedanken zu erraten und versichert mir:
Auch wenn Sie einen Weg aus diesem unterirdischen Gelände finden – wer würde Ihnen glauben? Seit Jahren fluten KGB und CIA die Welt mit mehr oder weniger plausiblen Verschwörungstheorien, und wenn das ARPANET erst einmal ausgebaut ist, wird man sich gar nicht mehr davor retten können. Und alle echte Information ist bereits vernichtet.“

Vom ARPANET hatte ich gehört, und mir war auch schon der Gedanke gekommen, dass man damit große Dinge anstellen könnte, vielleicht Informationen schneller um den ganzen Erdball verbreiten, sich mit seinen Freunden verbinden, Eintrittskarten kaufen oder gar Bücher bestellen. Und nebenbei all die Plattformen, die dann entstehen würden, mit Werbung versehen. Offenbar hatten auch schon andere diesen Gedanken.

„Also gut, da haben Sie wohl recht. Dann lassen Sie uns einen Tee zusammen trinken und etwas plaudern.“

Wir gehen in eine tadschikische Teestube, die sich die sozialistischen Wissenschaftler eingerichtet haben und in der monolithische Ex-Schwimmerinnen etwas zu starken schwarzen Tee mit Leuchtplankton servieren. Das sieht hübsch aus, schmeckt aber nicht besonders gut. Weil es so warm ist, servieren einige der Bediensteten in Unterwäsche, und ich kann ihre Muskulatur bewundern. Was ihnen wiederum gefällt und sie veranlasst, ein wenig zu häufig vor mir herumzustolzieren. Eine von ihnen stellt sich schließlich vor mich hin, streift ihren BH ab und blickt erwartungsvoll zu mir herunter. Sie ist gut zwei Meter groß, ein kommunistischer Schrank. Als ich keine Erektion bekomme, streift sie auch noch ihre Unterhose herunter und steht vor mir wie sie das Sportmedizinkollektiv geschaffen hat. Der alte Mann, der sich inzwischen als der Wissenschaftler Dr. Igor vorgestellt hat, sieht sich das Schauspiel belustigt an.

„Sie wollen als Frauen wahrgenommen und begehrt werden“, erklärt er, „und Männer in ihrem Alter kommen nicht sehr oft vorbei. Die meisten hier unten sind ältere Männer oder junge Frauen. Und Hunde.“
Ich nicke verständnisvoll und überlege was zu tun ist. Die Kellnerin tut mir leid, aber sie entspricht nicht meinem Beuteschema. Es hilft auch nichts, dass sie nach meinem Preis greift und daran reibt. Ihre Hand fühlt sich rau an.
„Bitte lassen Sie das“, sage ich schließlich, „Sie tun mir weh.“
Woraufhin sie traurig von dannen zieht, nicht ohne Dr. Igor einen vielsagenden Blick zuzuwerfen, ein Klischee, das durch die Tatsache, dass es sich dabei um eine muskulöse nackte Ex-Schwimmerin von riesenhafter Statur handelt, die als Serviererin in einer Teestube unterhalb der sibirischen Tundra in einem sowjetrussischen Forschungsinstitut mit zweifelhafter Zielsetzung arbeitet, noch einmal deutlich verstärkt wird.

Wie sich gleich zeigt, hat dieser Blick es in sich. Dr. Igor denkt einen Moment nach, holt schließlich eine Ampulle aus einer der Taschen seines Kittels und träufelt einige Tropfen daraus in meinen Tee. Das Plankton wird dadurch veranlasst, in wilden Spiralen umherzuwirbeln, bevor es schließlich zum Tassenboden niedersinkt und aufhört zu leuchten.
„Hier, trinken Sie“, fordert er mich auf und weist, als ich den Kopf schüttele, hinter mich, wo ein übergroßer bärbeißiger Bolschewik seine entsicherte Pistole in Richtung meiner Tasse schwenkt. Also trinke ich – besser als den Tod finde ich das auf jeden Fall (auch wenn ich diesen eigentlich nicht kenne; viel anders als traumloses Schlafen kann er nicht sein; nicht wirklich schlimm also, wirklich nicht schlimm; nur schlimm, weil man ständig meint, dass es das noch nicht gewesen sein kann, dass um die nächste Ecke noch mehr und vor allem besseres Leben wartet).
Zunächst fühle ich nichts, dann aber winkt Dr. Igor die Bedienung, die noch immer nackt ist, als spielte es keine Rolle, weil ihr ganzes Leben ohnehin jeden Rahmen verloren hat, erneut heran, und ich beginne die Natur der Substanz, die er mir in den Tee getan hat, zu verstehen.

Olga, so wird sie mir vorgestellt – eine weitere Olga, innerlich nenne ich sie Olga 3 – wirkt auf mich schlagartig ungeheuer anziehend. Ich erigiere, was ich mit einer Serviette zu verdecken versuche. Das gelingt nicht lange, die Serviette – ein grobes, weißrussisches Modell ohne Saugkraft – wird emporgehoben und so zu einer Art Wimpel, eine weißen Fahne vielleicht, um Waffenstillstand bittend.

Olga sieht noch genauso aus wie zuvor, ihr Anblick macht mich jetzt aber verrückt vor Verlangen. Sie greift erneut nach meinem Penis greift, und ich wehre mich nicht mehr. Ihr gewaltiger Kiefer umschließt ihn schließlich und beginnt daran zu saugen, als Dr. Igor plötzlich „Leider…“ sagt, ich schon ahne worauf dieses Leider hinauslaufen wird, denn auf einmal ist der Zauber vorbei, und obwohl mein Körper noch vor Lust bebt, regt sich ein enormer Widerstand in mir, und ich schiebe Olga – höflich genug, wie ich hoffe, ich will ihre geschundene Seele nicht noch weiter schinden – fort (was angesichts ihrer Masse kein einfaches Unterfangen ist), „leider…“ fährt er fort „… ist die Substanz sehr instabil, die Wirkung mithin von kurzer Dauer. 30 Sekunden, vielleicht 40. Sobald wir einen Weg gefunden haben, diese permanent zu machen, werden sehr, sehr viele Ehen in unserem geliebten Vaterland sehr, sehr viel glücklicher sein. Verbitterte Arbeiter und Bauern werden ihre ausgemergelten alten Frauen wieder begehren wie am ersten Tag, oder wahrscheinlich noch weit mehr. Und diese… “ – er weist auf die Schwimmerinnen – „…diese armen Kreaturen werden dann nicht mehr einsam sein, sondern geliebt werden, und zwar heftiger als eure dürren Models im dekadenten Westen.“

Er erläutert die Wirkungsweise des Medikaments – es passt das innere Schönheitsideal der Versuchsperson, das ja auch nur ein vollkommen willkürliches Produkt aus biologischer Evolution und Kultur ist, auf der Ebene des Kleinhirns an, sodass der Abgleich des realen Objekts mit den persönlichen Vorlieben vollkommen anders abläuft als gewöhnlich, nämlich sehr viel offener. Dann schaut er mich erwartungsvoll an, mit Stolz in den Augen, den er nicht verhehlt. Am Ende sind wir alle wieder Menschen mit witzigen kleinen Egos, analysiere ich treffsicher.

Ich denke darüber nach, ob ich das Recht habe, diese Art von Experiment pervers zu finden, denn was sonst gibt jenen vielen einsamen Seelen eine realistische Hoffnung auf eine gelungene Kombination aus wahrer Liebe und gutem Sex? Das Universum in seiner Grundausstattung bestimmt nicht. Und hier haben geniale Wissenschaftler das Schön-Saufen perfektioniert. Dann fällt mir ein:
„Sicher haben Sie auch über mannigfaltige andere Anwendungen nachgedacht: die allgemeine Zufriedenheit in der Bevölkerung erhöhen, die Organe des obersten Sowjet aus der Tiefe der russischen Seele verehren lassen, die Bevölkerung eines anderen Landes verunsichern und gegen die Regierungen protestierten lassen… militärische und wirtschaftliche Zwecke aller Art.“
„Natürlich“, antwortet Dr. Igor, „selbstverständlich. Das ist der Plan. Aber sicher wissen Sie wie es um Pläne in unserem Land bestellt ist… nicht gut, nicht gut.“
Erleichtert nicke ich. Dennoch muss ich beizeiten die westlichen Geheimdienste davon unterrichten, sage ich mir, ahne aber schon, dass ich, sollte ich jemals wieder heimatliche Scholle betreten, davon absehen werde, weil das einfach zu kompliziert würde. Behördengänge, viele Fragen, Stempel, Bögen, Zettel – das ganze Programm. Gäbe es – ich denke wieder an das, was mit dem ARPANET vielleicht möglich ist – öffentliche Plattformen, auf denen ein jeder öffentlich Vorgänge dieser Art enthüllen kann, die dann von allem Menschen gelesen werden können, wären wir einen großen Schritt weiter.

„Und die jungen Frauen, die die Stalaktiten im Arm halten?“
„Das“, antwortet Dr. Igor und streichelt seinen Spitzbart, „ist ein Experiment, das Eltern nicht wahrhaben wollen.“ Und der Wissenschaftler erklärt, dass man jene unglaublich starke Bindung zwischen Mutter und Kind auf ein paar doch recht einfache Mechanismen zurückführen konnte.
„Vor allem muss natürlich mit Oxytocin hantiert werden. Im Kombination damit werden die Frauen auf Stalaktiten konditioniert. An vielen Stellen wird sehr tief ins System eingegriffen, aber das Ergebnis kann sich sehen lassen: die Liebe der jungen Mütter zu ihren Stalaktiten ist in jedem Punkt identisch zu der sogenannten natürlichen Liebe zu Babys. Keine Studie stellte einen Unterschied fest.“
Ich nicke und nehme mir dann doch vor, die Höhle zu sprengen, nachdem ich alle Gefangenen befreit und die Untersuchungsergebnisse vernichtet habe. Was ich, wie ich mich kenne nicht tun werde. Nicht, weil mich die Implikationen der Experimente überzeugen würden – das tun sie zwar, aber ich gestehe es mir nicht ein, zu fern ist das von allem was ich gelernt habe über den Menschen -, sondern weil Empörung zu jenen Emotionen gehört, die sich am schnellsten zu legen pflegen.