Der Tunnel

Ninotschka hat es eilig, von hier wegzukommen, und etwas sagt mir, dass sie, obwohl sie höflich und durchaus zugewandt bleibt, auch von mir weg will, mich nach unserem Abenteuer, sollten wir es überleben, vielleicht niemals wiedersehen will. Wir robben durch einen langen Gang von vielleicht einem halben Meter Durchmesser. Das aus der Kammer in der Kathedrale Licht weist uns den Weg, wird aber schwächer. Manchmal wird unser Fluchttunnel enger, manchmal weiter, insgesamt aber mäandert er scheinbar endlos durch das sibirische Erdreich.

Ninotschka hat, noch immer unbekleidet, die Führung übernommen. Es wird wärmer, während wir uns weiter vorkämpfen; Erdwärme, denke ich, auch weil ich das Gefühl habe, dass es ein wenig bergab geht. Irgendwann wird der Tunnel noch breiter und höher, sodass wir aufstehen können. Auch scheinen die Wände stärker bearbeitet. Hin und wieder ist die Decke mit etwas Mörtel ausgebessert oder mit einem Balken – aus Beton, offenbar sind wir immer in der Sowjetunion – abgestützt. An der einen oder anderen Stelle erkenne ich Kacheln, mit Muster oder ohne. Teilweise Krankenhauskacheln oder solche wie aus einer Mensa. Als der Gang etwa zwei Meter breit ist, bleibt Ninotschka stehen, dreht sich zu mir um, wartet auf mich, und wir gehen nebeneinander weiter. Ich schaue sie fragend an, aber sie weicht meinem Blick aus. Obwohl klar ist, dass wir niemals ein Paar werden, treiben mich alte Mechanismen, offenbar vom Kleinhirn ausgehend, immer wieder in ihre Richtung, geben eine alte Hoffnung nicht auf. Mein Großhirn weiß allerdings gleichzeitig genau, dass die nächste Frau, die ein halbes Lächeln in meine Richtung wirft, den alten Bann lösen und einen neuen erzeugen wird. Du bist austauschbar, Ninotschka, denke ich und lächle erleichtert, grinse unkonfrontierend. Ein Grinsen, das infolge eines versehentlichen Blickes auf ihre im Takt ihres Gangs wippenden Brüste allerdings zu einer hässlichen Grimasse wird. Wir setzen schweigend unseren Weg fort, beide geradeaus starrend. Vielleicht, schießt ein Gedanke durch meinen ganzen Körper, jenen, der immer noch in eine lächerliche Mönchskutte gekleidet ist, vielleicht geht sie nur neben mir, damit ich ihren Alabasterkörper nicht von hinten sehe. Ja, wahrscheinlich ist das ihr Beweggrund, sicher wollte sie sich kein Stück annähern, nur schützen. Meine Stimmung stürzt noch weiter ab – absurd, wie autonom mein Gehirn seine Partnersuche fortsetzt, wo wir doch in einer so misslichen Lage sind.

Nach etwa sechs Stunden objektiver Zeit hat sich der Gang auf 18 Meter verbreitert, bei einer Höhe von sieben Metern. Es ist sehr heiß geworden. Ich habe mein schweres Leinengewand abgestreift und wandle nun ebenfalls unbekleidet durch diesen unwahrscheinlichen Ort. Wir haben während der ganzen Zeit kein Wort gewechselt, die Stimmung ist schlecht, sehr schlecht. Beide haben wir enormen Durst, beide schwitzen wir, was die Attraktivität meiner Begleiterin – sie führt die Expedition nun nicht mehr an, wir sind eigentlich gleichgestellt – nur noch mehr steigert. Auf ihrer nackten Haut mischen sich Schweiß und Erde und malen Muster auf Bauch und Rücken. Ihr Haupthaar hat sich an einigen Stellen, dem Stirnbereich hauptsächlich, aber auch der rechten Wange, angeklebt. Ihre blauen Augen starren nach vorne, ihr brünettes Haar jedoch schwingt in alle Richtungen, als meinte es auch mich.

Irgendwann finden wir Müll am Wegesrand, Wodka-Flaschen, Zigarettenstummel, alte Zeitungen. Wir fühlen einen leichten Wind, eine frische Brise. Es wird auch wieder kälter. Ich ärgere mich, meine Kutte so ohne weiteres aufgegeben zu haben, und wünsche mich zu den Olgas und all den anderen zurück, sogar zu Sascha.

Der Ausgang – für andere ist er wahrscheinlich ein Eingang – scheint nah. Ein schaler Lichtschatten schleift über den deutlich bearbeiteten Boden, es riecht nach Soljanka und in billigem Fett frittierten Würstchen. Allerdings handelt es sich um einen kalt gewordenen, abgestandenen Duft.

Plötzlich finde ich eine in der linken Wand eingelassene Tür, die sich deutlich von der inzwischen aus Platten (ähnlich jenen, die in der sowjetischen Baukunst Verwendung finden) bestehenden Wand abhebt. Irgendwie schäme ich mich, bin aber gleichzeitig bestrebt, dieses Gefühl – immerhin ist es nur ein Gefühl, keine echte Bedrohung – zu überwinden. Mein Penis ist aufgrund der einströmenden Kälte – Sibirien lässt wieder einmal grüßen – sehr klein geworden, ich verberge ihn vor Ninotschka, die immer schöner zu werden scheint, indem ich ihn zwischen meine Oberschenkel klemme. Mein Begehren wird stärker, aber niemals stark genug, um durchzudringen, die Barriere zu überwinden (es ist als wollte etwas in mir sie nicht wirklich). Andere Anteile wünschen sich noch immer, von ihr wahrgenommen und dann abgeholt zu werden: ich stelle immer neue Symbole auf, komme aber nicht aus meinem Versteck. Mache ich dann doch einen Schritt, weicht sie zurück, sie wird geübter darin, meine schüchternen Aufforderungen zu übersehen. Was auch immer mich steuert, welche Kräfte in meinem Inneren wirken – sie sind nicht ich. Und die Magie, die Menschen erotisch zusammenbringt oder -zwingt, sie stellt sich nicht ein, lässt sich nicht evozieren, nicht mit dem Wenigen, das ich aufzubieten bereit bin – und auch noch mehr Kraft, noch mehr Mut würden nicht helfen. Und das will ich Ninotschka begreiflich machen: dass wir auf derselben Seite kämpfen, wie verwirrte Kinder in einem feindlichen, schändlichen, letztlich unverständlichen Universum. Wobei mir im selben Moment klar wird, dass es eben dieses Universum sein könnte, dass diese Gedanken in jenes kaum zusammenhängende, zufällige System, das ich mein Ich nenne, induziert hat.

Ich gehe auf die Tür zu, spiele damit meinen letzten Trumpf aus. Ninotschka blickt mir höflich nach, eine Höflichkeit, die wie ein Messer in meinen Rücken sticht. Ach hätte ich doch noch meine alte Mönchskutte.

Ich öffne die Tür. Ein Gang erscheint, von antiquarischen Kandelabern, die ungeschickt an den Wänden befestigt sind, mühsam beleuchtet. Stalaktiten hängen von der hohen Decke herab, es tropft. Ich halte meine Zunge in das herabfallende Wasser und stille endlich meinen unendlichen Durst. Auch mein auf Ninotschka gerichtetes Begehren, das wahrscheinlich ohnehin nicht sehr tief war (eher eine Idee), verringert sich mit jeder Dosis dieses kostbarsten aller Getränke – aber nicht einmal diese Tatsache vermag ihr Interesse wieder zu wecken.

Ich schiele durch die angelehnte Tür und stelle fest, dass sie bereits ihren Weg in das Licht fortgesetzt hat; es spiegelt sich auf ihrem nackten, feuchten Körper und wird mehrfach gebrochen zurück auf den Weg geworfen, den wir zusammen gegangen sind und der nun ohne Bedeutung ist.

Ich schließe die Tür hinter mir. Und taste mich den Gang entlang, in eine neue Variation.