Des Imams weißes Gewand

Im Westen wäre es als elegante Abendgarderobe wahrgenommen worden, für einen Opernball, oder eine Hochzeit: vielleicht, so können wir mutmaßen, die Hochzeit zwischen zwei älteren Menschen, einem fünfundsechzigjährigen Witwer namens Wolfgang, der seine zwei Jahre und vier Monate ältere Freundin Brigitte heiratete.

Die beiden hatten nie Sex gehabt, obwohl sie sich bereits seit 35 Jahren kannten und, ohne es zu merken – damals merkte man derlei nicht – sich vor genau 33 Jahren ineinander verliebt hatten. Beide waren liiert gewesen, beide hatten einander respektiert und geachtet, und beide hatten versucht, ihre Gefühle füreinander zu vor sich selbst und ihren Psychotherapeuten zu verbergen. Brigitte allerdings war daran gescheitert und beinahe zerborsten. Sie musste handeln, und sie handelte (anders als die meisten anderen Menschen, die eigentlich auch handeln müssten, aber lieber fernsahen oder tranken).

Brigitte kannte Marianne, die Frau von Wolfgang, und sie kannte sie sehr gut: sie war deren Gynäkologin, und sie war es auch, die ihr nach einer Mammografie eine schreckliche Diagnose stellen musste; und die sich dafür schämte, dass irgendwo in ihrem Inneren Ströme – immer sind es die Ströme, nie die Gestalten – unreinen Gefühls flossen und vor ihren Augen Bilder von Wolfgang erschienen, Wolfgang, dem Gatten ihrer Patientin, dem Eisenbahner mit den schwieligen, riesigen Händen: sie wollte von diesen Händen berührt werden, massiert, liebkost. Ja, sie musste diese Diagnose einfach stellen, sie musste Marianne sagen, dass ihre Brüste entfernt werden müssten, jetzt gleich, vor Ort.

Ob es nicht Zeit habe, hatte Marianne gefragt, sie wolle erst mit Wolfgang reden, vielleicht ein letztes Mal Sex in ihrem alten Körper haben, worauf Brigitte sie noch mehr drängte, noch mehr die Dringlichkeit betonte: es gehe um Leben und Tod, jede Sekunde zählte. Und sie hat es durchgeführt, ambulant, und Marianne starb in ihrer Praxis, in ihren Armen, während das Wartezimmer immer voller wurde: und im Augenblick des letzten Atemzugs trafen sich Mariannes und Brigittes Blick, und Marianne verstand, verstand alles, und ihre Seele war so rein, dass sie Wolfgang und Brigitte alles Glück der Welt wünschte. Sie war ein großer Mensch, und Brigitte weinte, als sie Mariannes Grabrede hielt, und auch wenn sie vor Glück weinte, weil die Hochzeit mit Wolfgang schon fest geplant war, so mischten sich doch einige Tränen echter Trauer in ihre Augen. Und weil eine Beerdigung so ein schreckliches Ereignis ist und eine Hochzeit so ein wunderschönes, legten sie der Einladung zu dieser Beerdigung, die sie an alle Freunde verschickten, auch gleich die Einladung zu ihrer Hochzeit bei, und eine kurze, eher bescheidene Liste mit Geschenkvorschlägen. Und die Gäste kamen und betrauerten ihre Freundin Marianne, und ihre Trauer war tief und ernst, und als am nächsten Tag die Hochzeit stattfand, waren die Herzen einiger von ihnen noch schwer, und es kostete sie Kraft, sich für das neue Paar zu freuen. Petra jedenfalls konnte das, sie lebte im Augenblick, sie liebte das Leben, und sie liebte schöne Kleidung, und sie lebte von ALG II, und sie hatte keine Wahl: das elegante weiße Kleid trug sie an beiden Tagen, und es erinnerte einige der türkischen Freunde Wolfgangs, die ebenfalls der Hochzeit beiwohnten und mehr tranken als es ihre Religion erlaubte, an den Imam ihres Heimatdorfes.