Die Flucht

So liege ich da, in meinem alternden Körper, in Bandagen, Gips und am Tropf, allein in einem unterirdischen Hotelzimmer in der sibirischen Tundra, mit Stalaktiten vor dem Fenster. Die Gesamtsituation ist durchaus hoffnungslos; nicht so hoffnungslos vielleicht wie vor einem Jahr in Nairobi, oder vor zwei Jahren in Shanghai, aber doch hoffnungslos genug, denn nicht nur Gegenwart und Vergangenheit drücken auf die zersplitterten Fragmente meiner Seele, sondern auch die Zukunft, deren erdrückender Wiederholungscharakter Bilder einer Vorhölle, oder vielleicht auch gleich der Haupthölle, an die schlecht ausgeleuchtete prä-kommunistische Wand meines Hotelzimmers wirft.

In der Ecke des Zimmers steht ein US-amerikanischer Rollstuhl, eines jener hydraulischen Modelle, die auf dem freien Markt nicht erhältlich sind und niemals sein werden, sie sind Regierungsbeamten, Hollywood-Schauspielerinnen, Generälen und Milliardären vorbehalten. Ich reiße das Kabel, das mich mit dem Tropf verbindet, aus meiner Hand, wobei sich ein wenig Haut löst, ziehe meinen rechten Arm aus der Betonhalterung – er fühlt sich nicht gebrochen an, sicherlich hat man ihn geschient und bandagiert, um mich sexuell attraktiver zu machen -, versuche aufzustehen, es gelingt mir, wuchte mich auf den Rollstuhl, dessen Polster sich automatisch meinem Körper anpasst, überfliege die Kontrollen, finde den Start-Button, und dann fahre ich los. Um mein linkes Bein vom Gips zu befreien, rolle ich wiederholt vehement gegen die Wand, immer wieder, bis ich ein tiefes Loch hinein geschlagen habe; dem Gips aber hat es nichts gemacht. Dann gleite ich zur Tür, die verschlossen ist, hole Schwung, schalte auf volle Beschleunigung, Turbo voll aufgedreht, strecke mein Bein nach vorne (zum Glück ist auch der Fuß vollständig eingegipst), und zerfetze die Tür, deren billiges Furnier mit Holzmaserung aus Plaste und Pressspan keinen nennenswerten Widerstand leistet, fliege weiter in den Flur, die Treppe hinunter, in die Lobby, die voller Menschen ist,  endlich in eine Säule hinein, nehme noch wahr, dass in zweien der anliegenden Konferenzräumen viele Menschen – alte Männer in Militäruniformen und junge Frauen in Krankenschwesterkitteln – Versammlungen abhalten, bis mein Gips in tausend Stücke zerspringt, die teilweise mit großer Geschwindigkeit die Impulsenergie meines Aufpralls auf die Menschen meiner Umgebung verteilen.

Zwei alte Männer – der Vorsitzende einer Blockpartei, die nicht genannt werden darf, und ein Leutnant zur See a. D. – sind sofort tot, als medizinisches Material durch Augen und Hals in das Stammhirn des einen und das limbische System des anderen eindringt. Endlich kann ich wieder laufen – mein Bein ist in keiner Weise auch nur angebrochen, bzw. ist es angebrochen, aber nicht schwer, jedenfalls nicht für hiesige Verhältnisse, wo das Leben sehr viel härter ist als in unseren Breiten -, und ich nutze das Chaos, um mich unter der Menge in einem der Konferenzräume zu verstecken. Die meisten der Bandagen haben sich gelöst, ich trage nur noch die um den Oberkörper und bin ansonsten vollkommen nackt, allerdings von Kalk und Staub bedeckt, was einen gewissen Schutz bietet, wenn auch nur von den neugierigen Blicken verwirrter Koryphäen des Sozialismus und zwangsverpflichteter junger Frauen.

Ich rase also mit meinem Rollstuhl, dessen komplexe Steuerung ich immer besser beherrsche, bis ich schließlich eins mit ihm geworden bin, in den Konferenzraum hinein, in dem sich ungefähr 500 Personen befinden, halbwegs dem Geschehen auf der Bühne zugewandt. Dort zeigt man eine Kuhherde, vielleicht 12 Exemplare, also keine richtige Herde, eher eine Schule, wie sie Aufgaben löst, die für Nutztiere  ungewöhnlich sind. Addition, Subtraktion und – allerdings scheinen das nur der Leitbulle sowie eine etwas eitle Kuh zu beherrschen – einfache Prozentrechnung. Die Tiere stampfen ihre Ergebnisse in den Boden, und Muh scheint soviel zu bedeuten wie Unter Null, also negative Zahlen als Resultat von Subtraktionsoperationen, bei denen die zweite Zahl größer ist als die erste.

Barbusige Frauen in Häschenkostümen hüpfen um die Protagonisten herum, während ein georgischer Showmaster sein Bestes gibt, um dem desinteressierten Publikum – die Frauen denken eher an Flucht und die Männer an die Frauen – die jüngsten Errungenschaften sowjetischer Pädagogik als Beweis für eine glorreiche Zukunft zu verkaufen. Sie tun so – geschult von der Parteizentrale – als störte sie mein lautstarkes Hereinplatzen nicht. Zunächst fahre ich auf das Buffet zu – ich habe seit gestern nichts gegessen und auch kein Frühstück erhalten – und schaue was es so gibt. Ich entscheide mich für einen Planktoncocktail – ich erkenne ihn am Leuchten, nicht am Geschmack – und eine vegane Soljanka, die ich mit etwas Kwas hinunterspüle. Die ebenfalls barbusigen Frauen hinter der Theke schauen mich aus den Augenwinkeln an, lassen sich aber nichts anmerken, weil sie nicht sicher sein können, ob ich nicht zur Show gehöre. Ich nutze das aus und verschaffe mir Zutritt zur Küche, die sich hinter der Theke befindet, indem ich die Bediensteten einfach zur Seite winke, als hätte ich Befehlsgewalt, ganz selbstverständlich. Man folgt mir nicht.

Der Küchenraum ist riesig. Ich renne einen Gang lang, große Töpfe stehen zu beiden Seiten, ein kulinarisches Spalier. Die Köche – allesamt kommunistische Franzosen, wie es aussieht – nehmen mich nicht wahr, so konzentriert arbeiten sie an ihren Kreationen. Ich lasse es mir nicht nehmen, von der einen oder anderen Köstlichkeit zu probieren, und spare nicht mit anerkennendem Lob. Das nehmen die linken Bocuses gerne an – anscheinend geizen ihre Arbeitgeber damit, oder haben keinen Geschmack.

Überall stehen Herde, Kühlschränke, Geschirr, und Prototypen russischer Geschirrspüler – diese scheinen aber außer Betrieb, denn hinten an der Wand gibt es einen Trog so groß wie ein Handballfeld, voll mit Abwaschwasser und Schaum. Zumeist jüngere Frauen tummeln sich darin und reinigen Pfannen, Besteck, Teller und Tassen, die von den anderen Bediensteten hineingeworfen werden. Neben diesem Trog befindet sich eine große Wanne mit klarem Wasser, in dem die gereinigten Gegenstände abgespült und an eine Handtuchkohorte übergeben werden, die sie abtrocknet und in die jeweiligen Schränke einsortiert. In der Wanne sitzen zwei nackte Frauen in ihren Vierzigern. Sie sind so in ihre Arbeit vertieft, dass sie mein Starren nicht bemerken. Teller annehmen, abspülen, weiterreichen, Pfanne annehmen, abspülen, weiterreichen. Die eine hat große, etwas hängende Brüste, die hin und her schwingen, wenn sie große Küchenutensilien von Schaum befreit. Die Brüste der anderen sind fast nicht vorhanden, dafür stehen ihre Brustwarzen in den Raum hinein. Irgendwann ist das Wasser dreckig, dann nicken sie einander zu, stehen auf und lassen es ab, bis es mit einem letzten Schlürfgeräusch verschwunden ist. Dann duscht die eine die andere ab, sie befreien einander vom Schaum. Beide sind am ganzen Körper – mit Ausnahme des Haupthaars – rasiert, wahrscheinlich damit sich keine Essensreste fangen können und außerdem die Bildung von Bakterien erschwert wird. So gesäubert lassen sie frisches Wasser ein, und der Vorgang beginnt erneut. Ich fasse hinein und stelle fest, dass es ziemlich kalt ist. Plötzlich bemerken sie das, und die eine mit dem größeren Busen sagt:
„Das kalte Wasser ist gut für unsere Haut. Es ist – wohl wegen des Geschirrs und nicht wegen uns, aber immerhin – kalkreduziert, und die Kälte verhindert Faltenbildung. Wir sind nicht mehr die jüngsten, aber unsere Körper wirken wie die von denen da.“ Sie deutet Richtung Trog, in dem besagte jüngere Frauen – ebenfalls alle nackt, wie ich durch Schaum und Dreck zu erkennen glaube – ihrer niedrig qualifizierten Arbeit nachgehen.
„Hier, fühl mal.“ Und sie nimmt meine linke Hand und legt sie auf ihre Brust. Ich fühle ihre feste Brustwarze.
„Ich hingegen“, sagt plötzlich die andere, „bin nicht so überzeugt davon. Meine Brüste sind klein, und das kalte Wasser lässt sie weiter schrumpfen.“ Woraufhin sie meine rechte Hand greift und ebenfalls auf eine ihrer Brüste legt. Ich verstehe was sie meint.
„Komm, steig zu uns ins Wasser und spiel mit uns“, schlägt die erste vor, und die zweite nickt und lacht.
„Leider habe ich keine Zeit“, antworte ich, „ich bin auf der Flucht.“
„Ach was“, erwidert die zweite und verstärkt ihren Griff. Die erste tut es ihr gleich. Gemeinsam ziehen sie mich vom Rollstuhl herunter in die Wanne.
„Achtung, mein Verband“, rufe ich albern – ein wirklich sinnloser Einwand -, und schon sind sie dabei, ihn mir abzustreifen. Ich versuche sie davon abzuhalten, aber die erste erklärt:
„Deine Verletzungen sind längst geheilt. Hier unten gibt es Heilerde-Gase in der Luft, die weltweit einmalig sind. Sie sind übrigens auch der Grund, warum wir alle hier sind.“
Das überrascht mich.
„Ihr seid freiwillig hier?“ Beide nicken vehement.
„Wir hatten Tuberkulose und allerhand andere Krankheiten. Jetzt nicht mehr. Als Ausgleich leisten wir Küchendienste.“
„Nackt? Um die Obersten Sowjets zu erregen?“
„Nein“, schüttelt die erste den Kopf, „sondern weil es im Kommunismus nicht genügend Kleidung gibt, um sie ständig zu wechseln.“
Die beiden halten meine Hände immer fester auf ihre jeweiligen Brüste, bis es fast schmerzt.
„Ähm, ihr könnt mich jetzt loslassen“, empfehle ich.
„Könnten wir“, antwortet die zweite, „aber du bist auf der Flucht, oder?“ Und sie fahren fort, meinen Verband zu entfernen, bis auch ich vor ihnen stehe wie Gott mich geschaffen hat. Mein Glied hängt klein und schlaff herab, und die erste greift es und hält es als weitere Drohung fest.
„Wachen!“ ruft sie schließlich, und nun schauen die Frauen im primären Trog auf, und auch das andere Personal, insbesondere die Abtrocknerinnen, richten ihre Aufmerksamheit auf das Geschehen. Nur die Köche scheinen unbeeindruckt.

Ich versuche mich zu befreien, habe aber seltsamerweise keine Chance, so fest halten mich die beiden.
„Spekuliert ihr auf eine Belohnung? Ich zahle das Doppelte!“
„Wir spekulieren nicht wie ihr dekadenten Kapitalisten“, weist mich die erste zurecht, und ich denke  Oh no. Dann habe ich eine Idee.
Ich verstärke meinen Griff ebenfalls, so daß ich die große Brust der ersten und die große Brustwarze der zweiten quetschen kann, was weh tun sollte. Tut es auch, sagen mir die Gesichter der beiden. Ich drücke noch fester zu, und schließlich gelingt es mir, mich loszureißen und in den großen Trog zu springen. Während ich in das warme, beinahe heiße Wasser tauche, höre ich in der Entfernung aufgeregte Stimmen – Soldaten und Geheimdienstagenten, die mich wieder einfangen wollen.

In dem Abwaschwasserbecken schwimmen ungefähr 15 Frauen. Die meisten sind von Schaum bedeckt, und ich frage mich, wieso das Wasser nicht viel dreckiger ist und der Schaum nicht verschwunden angesichts der ungeheuren Mengen Geschirr, das hier gewaschen wird. Während meine Verfolger immer näher kommen, tauche ich wieder und wieder unter und suche den Boden des Trogs ab. Ich schwimme zwischen Beinen hindurch und höre ein Kichern wenn ich welche berühre. Ich öffne die Augen, obwohl das Spülmittel brennt. Dicke und dünne Körper bewegen sich um mich wie Fische. Auch in diesem Fall sind die meisten Vaginas rasiert, was ich zwischen Bananenschalen, Knochen, Apfelgriebschen und Teebeuteln gerade so erkennen kann.

Manche Frauen tauchen ebenfalls unter und tasten umher – wahrscheinlich wollen auch sie mich dingfest machen und den Behörden übergeben. Geschickt weiche ich aus. Nur einmal kann mich ein kräftiges Weib festhalten, und sofort stürzen sich alle auf mich, und ich bin umgeben von glitschiger Haut und fühle mich wie in einem Becken voller Aale. Ich greife um mich, fühle Brüste, große, kleine, mittlere, Pos, schlanke und dicke, Nasen, Münder, Vaginas, und kann mich schließlich befreien. Während ich tiefer hinunter und weiter weg tauche, höre ich, dass der Kampf sich fortsetzt, als habe man mein Verschwinden nicht bemerkt. Das mache ich mir zunutze, indem ich den Boden systematisch absuche, bis ich schließlich fündig werde.