Das Nacktmahl

Ich bin ungefähr vier Stunden durch dieses tropfsteinhöhlenartige Gebilde gelaufen, als es wieder wärmer wird und mein Penis entsprechend größer. Man könnte ein Thermometer daraus bauen, denke ich, und gleich wird mir klar, dass ich hungrig bin und mein Gehirn wohl nicht mehr richtig funktioniert.

Der Gang hat viele Verzweigungen, die allesamt interessant wirken und die ich gerne erforschen würde. Ich verschiebe das auf später, vergesse mein Vorhaben aber immer sofort wieder, weil sich ständig neue Möglichkeiten bilden. Seltsam, denke ich, wie stark die Möglichkeitendichte über die Zeit schwankt – und manchmal hat man gar keine.

Es gibt aufregende Felsformationen: ich laufe durch riesige Hallen, schwimme durch warme Pools mit allerhand phosphoreszierenden Fischen und Quallen, die mich von unten anleuchten und die die ferne Höhlendecke, von der teilweise über 200 Meter lange Stalaktiten (aber auch solche, die nur einen Meter oder weniger messen) herabhängen, in ein unwirkliches Licht tauchen. Ich trinke eiskaltes, blaues Gebirgswasser aus sprudelnden Quellen, besuche geologisch-physikalische Dampfsaunen und Whirlpools – ein natürliches Wellness-Paradies. In einer Kavität finde ich schließlich eine Kiste mit russischen Erzeugnissen: Krim-Sekt (den ich sofort im aus einer der kältesten Quellen fließenden Strom kaltstelle), einige Dosen mit Suppe (Soljanka), ein wenig eingeschweißtes Graubrot, fünfzehn Packungen Instant-Pelmeni. Auch eine Pfanne, Besteck, Teller und Tassen finden sich, alles wahrscheinlich zurückgelassen von einer geologischen Expedition oder Flüchtlingen aus einem der zahlreichen Kriege. Etwas weiter entfernt zischt Dampf aus einer Art kleinem Geysir, den ich nutzen kann, um meine Speisen zuzubereiten: ein unterirdisches Höhlenmahl der besonderen Art. Nach zwei oder drei Saunagängen fühle ich mich entspannt bis in die auch für mich unermesslichen Tiefen meiner Seele, bin reine Gegenwart, ohne Angst, Trauer oder Hoffnung. Die Temperatur beträgt angenehme 32 Grad, mein Penis hat beinahe seine normale Größe erreicht (besonders in schlaffem Zustand etwas unter dem Durchschnitt, aber ausreichend). Ich genieße mein köstliches, wenn auch nicht ganz frisches Abendbrot, gönne mir zwei Gläser Sekt, setze mich auf eine warme Felsformation, die einen natürlichen Sessel gebildet hat, und schaue mir das Farbenspiel der Fische an, die wie nautische Glühwürmchen agieren und deren Leuchtspuren mich belustigen. Nach ungefähr vier Stunden schlafe ich endlich ein.