Grünliche Laterne – das Urteil

Für das Risiko, dass einer dieser Herren erneut eines der schlimmsten denkbaren Verbrechen begehen würde, war meine Seele nicht groß genug, und so veranlasste ich den Ring, sie zu konditionieren und zu traumatisieren: allein ein Gedanke an ein Kind würde fortan zu Schweißausbrüchen und Angstzuständen führen. Die bewaffneten Wächter erhielten von mir eine ähnliche Prägung in Bezug auf Waffen aller Art. Wie gerne hätte ich die seelischen Wunden der Kinder ebenso behandelt – aber hier versagte der Ring.

Zunächst tauschte ich die grünen virtuellen Ketten gegen Handschellen aus, die ich in einer der Waffenkammern gefunden hatte. Dann stellte ich das Beweismaterial sicher, indem ich die Mobiltelefone der Verbrecher und die Computer des Anwesens scannte, bevor ich die Polizei zu rufen gedachte.

Der Ring hatte nicht nur einen (extrem schnellen) Internetzugang, sondern konnte sich in sämtliche Mobilfunknetze dieser Erde einwählen – praktisch. Es war seine Art – die nicht nur überflüssig war, sondern einen Hang zum Albernen hatte – reale Gegenstände zu simulieren, um seine Ziele zu erreichen: neben meinem Ohr materialisierte ein grünes Smartphone. Immerhin musste ich die Nummer nicht googeln, sondern wurde direkt mit den örtlichen Sicherheitskräften verbunden. Mein Schmutzstück diente dabei als Universalübersetzer, der sich direkt in mein Gehirn einklinkte: ich formulierte auf Deutsch und hörte mich fremde Worte sagen, die ich nicht verstand. Ich konnte auch nicht einschätzen, wie überzeugend ich wirkte – ich hatte natürlich gelogen und erklärt, ich selbst hätte die Bande vermöbelt -, aber schließlich erklärte der nicht sonderlich nette Polizist am anderen Ende der Leitung:
„Wir sind in 15 Minuten bei Ihnen. Nichts anfassen.“

Nach einer knappen Stunde kamen zehn Mann aus Pattaya, die mein Kostüm erstaunt ansahen, es dann aber als westlichen Spleen abtaten und sich schnell daran gewöhnten. Ich schilderte die Umstände, erzählte wie die Männer die Kinder missbraucht hatten, wie schrecklich das sei – der Hauptmann nickte eher wenig überzeugt – und dass diese Menschen den Behörden überstellt werden müssten, um dann in ihre jeweiligen Länder ausgeliefert und dort bestraft zu werden. Die Kinder aber sollten identifiziert werden: jene, die Entführungsopfer waren, müssten zu ihren Eltern zurückkehren, die Waisen unter ihnen oder die von ihren Familien verkauften sollten in ein Heim kommen, bei dessen Ausstattung ich unterstützend eingreifen würde.

„Und Sie allein haben das geschafft?“ fragte Hauptmann Phatipatanawong (ich konnte das Schild an seinem Hemd lesen). Woraufhin meine Stimme auf Thai antwortete:
„Ich bin sehr gut mit meinen Fäusten.“
Der Hauptmann nickte, aber der Fokus des Nickens lag einen Meter hin mir, und als ich mich umdrehte, starrte ich in die Mündung einer .38er Smith & Wesson.
„Sie verderben uns das hier nicht!“ erklärte der Freund und Helfer. Nun ja: von Korruption hatte ich schon gehört.

Ich befahl dem Ring, alle Polizisten gleichzeitig niederzustrecken, und zwar so schnell, dass sie keine Grün mehr vor ihrer Ohnmacht wahrnehmen konnten. Dann fesselte ich sie und packte sie auf den Päderastenhaufen.

Was nun?

22 schwer traumatisierte Kinder schliefen einen grünen Schlaf. 15 Verbrecher – Organisatoren und Konsumenten – und 10 Polizisten ebenfalls. Ich war der einzige der wach war. Auf meine Frage, wie stabil jene generierten grünen Gegenstände seien, antwortete der Ring knapp „sehr“. Ob er auch andere Farben generieren könne, fragte ich, was er verneinte – er könne aber Umgebungsmaterialien verwenden (nur mit gelben Gegenständen habe er Schwierigkeiten, die sich aber leicht umgehen ließen durch Sonnenlichtfilter, die er vor diesen materialisieren könnte und die ihnen eine andere Farbe gäben).

In der Nähe gab es – das zeigte mir die Maps-App des Rings – ein kleines buddhistisches Kloster mit ca. 30 Mönchen. Ich erklärte ihnen die Lage, und auch wenn sie lieber ihre Ruhe haben wollten – Mitgefühl hin oder her -, stellten sie mir immerhin ein brachliegendes Nachbargrundstück zur Verfügung. Auf diesem errichtete der Ring einige hübsch eingerichtete, ökologisch nachhaltige Gebäude mit 50 Zimmern, Pool auf dem Dach und Gemeinschaftsräumen.

Das Personal war ein Problem. Der Ring erschuf 35 grünlich schimmernde, halb transparente, liebevoll lächelnde Thai-Krankenschwestern, die sich sofort an die Arbeit machten, die Räumlichkeiten für die Ankunft der Kinder vorzubereiten. Außerdem erzeugten wir fünf Traumatherapeutinnen und zwei Ärztinnen, ebenfalls grün, sowie eine zehnköpfige Wachfrauschaft mit Maschinenpistolen.

Drei der Mönche erklärten sich bereit, in Pattaya Kleidung zu kaufen (ich erzeugte einen Stapel Dollar und Baht). Einem anderen trug ich auf, eimerweise hautfarbenes Makeup zu erwerben. Die grundsätzliche Farbgebung des Personals konnte ich nicht ändern, aber sie konnten sich kleiden und versuchen, ihr smaragdenes Äußeres so gut es ging zu überdecken. Auf die nächste Einkaufsliste kamen farbige Kontaktlinsen und schwarzes Haarfärbemittel.

Als alles beisammen war, wies ich das Team an, sich so gut es ging als Menschen zu verkleiden. Heraus kam eine Mischung aus Zombies und Gespenstern, die irgendwie auch an Prostituierte erinnerte. Das würde genügen müssen.

Grünliche Laterne – der Ring

Soundtrack: 

Wissen floss in mich wie ein mächtiger Strom, ohne Grenzen, ohne Limit, ohne Textur. Ich lernte, dass der tote Außerirdische Rho-Mag-Ton-Bur hieß und dass er einem Corps von Superhelden angehörte, die angeleitet von mächtigen alten Wächtern – alle männlich – das Universum im Zaum hielten. Ihre Geschichten sind in Literatur und Kunst vieler Zivilisationen zu finden, meist stark verflacht und verfälscht (auf der Erde in Comics mit muskulösen Männern, sexy Frauen und unwahrscheinlichen Außerirdischen, die fast immer gewinnen). Der Ring erzählte mir, was die Welt wirklich im innersten zusammenhielt – und es war ganz anders als ich erwartet hatte (vielleicht schreibe ich es an anderer Stelle mal auf – es ist wirklich viel einfacher als wir alle dachten, aber ähnlich schwierig zu „sehen“ wie die Luft die uns umgibt).

Meine Kleidung hatte sich inzwischen verändert. Ich trug eine Art eng anliegenden Pyjama, der meine Figur allerdings unvorteilhaft erscheinen ließ. Mein Bauch hing über den Gürtel, und der enge Kragen schob mein Doppelkinn nach oben. Ich bat den Ring, das zu korrigieren, was er fettverbrennenderweise auch tat. Außerdem legte sich eine dunkelgrüne Maske um meine Augen herum, mit der man mich gewiss nicht erkennen würde, auch meine engsten Freunde nicht.

Dann erklärte er mir meine zukünftige Aufgabe (ohne zu fragen, ob ich mit dieser fundamentale Änderung meiner bisherigen Prinzipien einverstanden sei)…

Nachdem ich den Ring in so einer Vintage-Batterie aufgeladen hatte, wofür ich einen eher weniger poetischen Reim aufsagen musste, startete ich zu meinem Jungfernflug. Mein Wille geschah, der Ring hüllte mich ein grünes Kraftfeld, und ich stieg Richtung West-Nord-West auf, um meine neuen Möglichkeiten auf dem Tempelhofer Feld auszuprobieren. Als erstes drehte ich einige Loopings, dann stieg ich über die Wolken (sie waren kühl und feucht und gar nicht romantisch, aber ich befahl dem Ring, eine warme Schicht um meine Kleidung zu legen und dies immer so zu machen, bei jedem Flug), schließlich probte ich einige Landungen, und letztlich startete ich einen Langstreckenflug Richtung Thailand, wo ich zwölf Minuten später ankam.

Ich mochte nicht auffallen, also landete ich in der Khao-San-Road und mischte mich unter die Alternativ-Touristen (die eine wirklich tolle Alternative zu den Pauschal-Touristen darstellen). Dort frühstückte ich erst einmal (die notwendigen Baht hat der Ring generiert, wobei er irgendwie protestierte). Weil ich mich nicht künstlich von der allgemeinen touristischen Profanität abheben wollte, bestellte ich einen Banana Pancake und einen Cappuccino. Trauben an Westlern und Japanern prozessierten die Straße entlang und kauften hier und da ein T-Shirt, Räucherstäbchen, CDs und Hühnchenspieße. Dickliche rotgebrannte ältere Deutsche in Basketballshirts und kurzen Hosen flanierten Hand in Hand mit wesentlich jüngeren Thai-Frauen die Straße entlang, die immer wieder kicherten, wenn ihre Freier auf etwas zeigten und erklärten wie sie die Welt sahen. Einige waren auch schneeweiß – ihr Bumsbomber musste vor nicht allzu langer Zeit gelandet sein. Natürlich war die Khao-San-Gegend nicht ihr natürlicher Lebensraum. Sie – und ungleich schlimmere Vertreter derselben Spezies – hatten ein anderes Jagdrevier. Der Ring flackerte, als sich nach und nach Ideen einstellten, was mein erster Job als Superheld sein könnte.

Nachdem ich mit meinem Falschgeld gezahlt hatte, bat ich den Ring, mich unauffällig nach Pattaya zu bringen. Auf dem Weg dorthin – der eigentlich nur einige Sekunden gedauert hätte, aber ich nahm mir Zeit und flog mit einer Tarnkappe, aber ohne weiteren Schutz in niedriger höhe durch die warme, feuchte Tropenluft – scannte ich sämtliche Handygespräche, die derzeit im ganzen Land geführt wurden (der Ring ist in dieser Hinsicht mächtiger als die NSA – um die, so plante ich bei dem Gedanken daran, ich mich zu gegebener Zeit kümmern würde). Und wurde sehr schnell fündig.

Ich navigierte zu einer Villa einige Kilometer nördlich von Pattaya, die Teil eines nach Geld stinkenden Anwesens war (der Ring konnte Informationen in olfaktorische Reize umsetzen und die Möglichkeiten seines Trägers, die Welt zu erleben, erheblich erweitern). Vor der Tür saßen zwei bewaffnete Galgenvögel mit offenen Hemden, Goldkettchen und Zigarette im Mund. Ich schaltete sie aus, indem ich zwei große grüne Boxhandschuhe formte und „zuschlagen“ dachte. Der eine wurde gegen eine weiter entfernt stehende Palme geschleudert, der andere rutschte einige Meter über den Boden, bevor er von einem Blumenkübel gestoppt wurde (ich würde lernen müssen, meine Kräfte zu kontrollieren). Beide aber hatten, wenn auch knapp, überlebt. Ich betrat das Haus durch die verschlossene Stahltür, die sich zu meinem Kraftfeld verhielt wie Staniol zu einer Bowlingkugel.

Zwei weitere Männer – diesmal mit Maschinenpistolen – erschienen, die ich ausschaltete, indem ich einen kurzen Herzstillstand hervorrief. Aus einem der weiter hinten gelegenen Räume hörte ich eine laute Stimme und ein verzweifeltes junges Schreien. Zunächst wollte ich rennen, entschied mich dann aber für einen kurzen Flug. Ich riss die Tür aus der Verankerung und stand einem erschreckt dreinblickenden reichen Rentner gegenüber, der – mit Ausnahme natürlich seiner Socken – unbekleidet war. Hinter ihm auf einem Bett lag ein vielleicht 8-jähriges gefesseltes Mädchen, das apathisch an die Decke starrte. Ein schneller Scan mit dem Ring ließ mich wissen, dass sie bis auf oberflächliche Blessuren körperlich unversehrt und auch nicht sediert war: in ihre Seele aber konnte mein neues Werkzeug noch nicht blicken. Der alte Mann hielt eine Petische in den Händen und überraschte mich mit einem erstaunlich schnellen Angriff. Ich war unkonzentriert, und so erwischte er mich am Hals. Eine Sekunde später hatte ich ihn niedergestreckt und mit transparenten grünen Seilen gefesselt: diese zog ich so eng, dass er beim Aufwachen Schmerzen haben würde, und fragte mich gleich, was meine Rolle hier war: ob ich auch Richter wäre oder nur Polizist. Das Mädchen befreite ich. Es schrie noch immer, und so betäubte ich es behutsam.

In gleicher Manier durchkämmte ich das ganze Anwesen, betäubte einen Pädophilen nach dem andern und stapelte sie im größten Raum der Villa auf einen Haufen. Die Mädchen – und einige Jungen – legte ich schlafend in ein großes, weiches grünes Bett. Soweit so gut – doch was nun? Die Polizei rufen? Die Deutsche Botschaft? Die Presse?

Ich entschied mich, die Gewalttäter zunächst zu „behandeln“.

Ich werde Grünliche Laterne

Zitternd sitze ich nun hinter meinem Bildschirm und tippe die Ereignisse des Tages herunter, die sich nicht so recht in Form und Substanz meines bisherigen Lebens – das, so muss man nach Lektüre dieses Blogs doch zugeben, durchaus eigenartig verlaufen ist – einfügen wollen.

Heute morgen war alles normal: ich stand auf, erledigte die Toilette – der Stuhl fest und kompakt, wie es sein soll -, schrieb ein oder zwei Scripts beim Frühstück, um meinen News-Input zu optimieren, und verließ die Wohnung auf der Suche nach Arbeit, Liebe und Wissen, die mein Leben regieren. Ohne Ziel stromerte ich durch Kreuzberg ins tiefste Neukölln, bis ich schließlich die Silbersteinstraße erreichte: wo ich von einer seltsamen Kraft ergriffen wurde, die mich mehr schob als zog: in einen vermüllten Hinterhof hinein, typisch für diese Gegend. Überall lagen ausgeschlachtete Fahrradrahmen, Blumentöpfe mit verstorbenen Kakteen, alte Zeitungen der Springer-Mafia, und Hausmüll.

Weiter schob es mich, in den zweiten, dritten, vierten Hinterhof, die Hinterhöfe wollten gar nicht mehr enden, der Putz der Häuser verdiente seinen Namen weniger und weniger, die grauen Herren der Bauaufsicht waren seit Jahrzehnten Fremde an diesem Ort, der außerhalb der Zeit stand. Verwahrloste Katzen begutachteten mich neugierig und verschwanden in unkartografierten Kellern. Hin und wieder sah ich ein Gesicht hinter einer vergilbten Gardine auftauchen und verschwinden, vom Licht geblendet, oder voller Angst vor mir, dem Eindringling aus einer besseren Welt.

Hinter einer Milchglasscheibe sah ich eine nackte Frauengestalt duschen, immerhin, auch wenn es wenig Wasser und noch weniger Seife gab. Die Schemen deuteten einen jungen Körper an, etwas Leben in dieser Schattenwelt. Ich konnte nicht länger verweilen, denn das Schieben wurde stärker – nicht einmal die (okay, schwache, aber dennoch) Aussicht auf ein wenig gegenseitiger Liebe konnte dem widerstehen. Ich drehte mich um, aber da war nichts, außer einem feinen grünen Leuchten: eine Art Neon-Nebel drückte in meinen Rücken, geformt wie eine Hand. Weiter, sagte sie.  Und weiter ging ich, in den letzten Hinterhof hinein. Was ich da sah, machte meinen Tag.

Zuerst hielt ich die unter allerhand Schrott auf dem Boden liegende Gestalt für einen Alkoholkranken in seinem letzten Stadium, als ich sie aber näher betrachtete, erkannte ich eindeutig einen Außerirdischen, der mich zu sich winkte. Er hatte graue Haut, drei – wahrscheinlich – Augen, keine Nase, und einen schmalen Mund, aus dem die Laute Komm, komm hervorkrochen, röchelnd, sterbend. Dann zogen sich die Mundwinkel nach unten, aber irgendwie wusste ich, dass dies ein Lächeln war. Warum ich das wusste? Ein Teil der grünen Kraft hinter meinem Rücken hatte sich einen Weg in mein Gehirn gesucht und füllte mich mit interplanetaren Kommunikationsfähigkeiten. Ich konnte nicht nur seine Sprache interpretieren, sondern auch seine Mimik und Gestik deuten, die so unterschiedlich zu den menschlichen waren wie noch in keinem Science Fiction-Film dargestellt.

Irgendwann war der Prozess abgeschlossen. Dann sagte er:
„Ich sterbe.“
Ich starrte ihn an.
„Ich habe dich hergelockt, weil du ein guter Kerl bist.“
Ich starrte ihn weiter an, fand aber die Kraft mich zu bücken und dann neben ihn zu hocken. Er griff meine Hand.
„Hier“, sagte er und steckte mir einen Ring an, „nimm dies. Es ist Fluch und Geschenk zugleich.“
Noch immer konnte ich keine Worte hervorbringen.
„Dieser Ring wird dir alles weitere erklären. Tue Gutes, dann wirst du…“
Und mit diesen Worten starb das arme Wesen in meinen Armen. Ich weinte eine verwirrte Träne. Dann begrub ich ihn in einer mit Erde gefüllten Badewanne, die auch in diesem Hinterhof stand. Ich begutachtete sein kleines Raumschiff, das völlig zerstört war und, so entschied ich, in dieser Umgebung nicht weiter auffallen würde.

Dann setzte ich den Ring auf.

Der Intelligenzdienst 2

Eine weitere Tür öffnet sich, die vorhin, da bin ich sicher, noch nicht da war. Zwei Androidinnen unbekannten Typs, aber vom Design her zumindest angelehnt an Sowjet-Schwimmerinnen, wenn auch auf Basis eines Templates mit asiatischen Gesichtszügen instantiiert, treten ein und auf mich zu. Eine jede packt mich auf einer Seite, und mühelos ziehen sich mich nach oben und tragen mich ins Dunkel.

Einige Zeit vergeht, vielleicht zwei oder drei Stunden, um meine Schultern beginnen zu schmerzen. Anders als sonst in meinen Abenteuern scheint es diesmal aufwärts zu gehen. Ich spüre eine leichte Vertikalität in der Bewegung. Auch wird es immer heller, und nun befinden wir uns in einem gleißenden Gang klinischer Provenienz. Schließlich erreichen wir unser Ziel – jedenfalls vermute ich das, als wir vor einer Panoramascheibe stehen bleiben, die einen Blick auf einen Zellentrakt ohne Boden, Decke oder hintere Wand zeigt. Millionen von gläsernen Kuben sind in einem scheinbar wirren, aber wahrscheinlich einer perfiden Ordnung folgenden Muster verteilt und ineinander verschachtelt. In jedem von ihnen befindet sich ein nackter Mensch. Gefangene wie ich, nur dass ich noch T-Shirt und Unterhose anhabe. Manche liegen einfach still auf dem Boden, andere laufen auf und ab wie ein Rilke’scher Panther.

„Gott hatte einen noch zweiten Sohn“, beginnt plötzlich die Androidin zu meiner Linken zu erläutern, „aber nur der erste ist bekannt.“
„Jesus“, blubbere ich wie ein Dummkopf.
„Genau“, antwortet die andere nun, die der ersten zwar nicht gleicht wie ein Zwilling, aber auch nicht anders genug aussieht, um keiner zu sein. Noch immer stehe ich unter dem Einfluss der Pheromone, der sich aber mittlerweile so weit abgeschwächt hat, dass ich nur die eine von beiden ungeheuer attraktiv finde, die andere aber schon nicht mehr. Die eine fährt fort:
„Schon lange bevor Jesus aus einer Liaison zwischen Maria und dem Heiligen Geist hervorging und der Welt die Frohe Botschaft brachte, …“, stoppt die eine, und die andere fährt nahtlos fort:
„… dass von nun an alles besser würde, wenn man bestimmten Bedingungen genüge, wie zum Beispiel seine Seele Jesus Christus zu übergeben, mitsamt aller Verantwortung für sich selbst, hatte Gott einen zweiten eingeborenen Sohn – der sich auch Der Erstgeborene nannte und nennt – zur Welt  gebracht (diesen hatte er einfacht erzeugt, ohne Umweg über Dritte), mit demselben Auftrag.“
An dieser Stelle führt die andere fort:
„Nämlich die Menschheit auf Spur zu bringen. Der Erstgeborene hatte, ähnlich wie später Jesus, seinen Job sehr ernst genommen, war aber ebenfalls grandios gescheitert. Als Gott ihn dann wieder zu sich nehmen sollte, weigerte er sich und sagte, er wolle es weiter versuchen.“
„Und das hier …“, übernimmt wieder die eine und weist auf den endlosen Raum hinter dem Fenster, “ … ist eines der Ergebnisse.“
„Wer sind die?“, frage ich.
„Ursünder“, antwortet die andere. „Wie auch du einer bist.“
„Moment mal“, erwidere ich, „inwiefern denn das?“
„Das werden wir schon noch herausfinden. Was du hier siehst sind Folterkammern.“
„Moment mal“, frage ich, „ihr wisst also noch gar nicht, ob ich schuldig bin?“
„Wir gehen davon aus“, sagt die eine, „letztlich sind alle schuldig.“
„Ursünde“, erklärt die andere.

Ich realisiere, dass mein Pheromonspiegel sinkt und ich wieder handlungsfähig werde. Heimlich analysiere ich diese vertrackte Situation. Warum gelange ich nur immer wieder in solche? Warum passieren manchen Menschen Dinge der einen und anderen Menschen Dinge der anderen Art, und warum scheint es so zu sein, dass diese Arten der Dinge bei der Geburt festgelegt werden und sich fortan, bis zum Ende des Lebens, nicht mehr ändern? Die Menschen bleiben, was sie einmal sind, und ihnen widerfährt, was ihnen einmal begonnen hat zu widerfahren.

Ich wünsche mir die Polizisten zurück. Besonders der ältere schien in Ordnung, ein feindlicher, aber vertrauter Teil meiner Welt. Aber sie sind nicht da.

Plötzlich sehe ich ihn! Er sitzt nackt in einer der Zellen und schaut traurig zu uns hoch. Und er kann nicht begreifen, dass auch er, der Staat, Polizei, Kirche und Geheimdienst ein Leben lang so treue Dienste geleistet hat, in die Riege der Verdammten, die Legion der Sünder, eingereiht wird wie jene, an deren Verfehlungen er glaubte wie ein ländlicher Bayer an Gott.

Ich höre ein Geräusch hinter mir. Inzwischen bin ich schon so weit, dass ich alle Ereignisse als Fluchtmöglichkeiten in Betracht ziehe. Aus einem Impuls heraus frage ich meine beiden Aufpasserinnen:
„Was ist das Verhältnis zwischen ‚Fluch‘ und ‚Flucht‘? Sind die beiden verwandt?“
Volltreffer! Die beiden blicken einander an und können nicht entscheiden, wer antwortet. Ich nutze den Moment der Verwirrung und drehe mich um, in Richtung der Geräuschsquelle.

Was ich sehe, überrascht mich nicht – allenfalls überrascht mich, dass es mich nicht überrascht (was ich aber schnell auf die letzten Reste Pheromone in meinem Blut schiebe).

Der junge Polizist wird von einem weiblichen nubischen Zwillingspaar (das nicht aussieht wie Androidinnen) hereingeführt und steht nun im selben klinischen Gang wie ich, dreißig Meter hinter mir. Er wirkt noch völlig benebelt.

Die Afrikanerinnen schauen traurig drein. Vermutlich sind auch sie nicht freiwillig hier. Vielleicht ist niemand freiwillig hier, und ein sinnloses System erhält sich aufrecht, eben weil es in einen Zustand geraten ist, in dem es stabil ist, in absoluter Abwesenheit einer bewussten Betrachtung.

„Hey“, rufe ich nach hinten, „auch hier?“

Der junge Polizist, der noch vor wenigen Stunden so ein kalter zynischer Vertreter dessen war, zu dem Recht und Gesetz geworden sind (angelegt war es in den beiden allerdings schon immer), ist nach wie vor benebelt. Die eine seiner beiden Nubierinnen schaut ihn beinahe zärtlich an. Wir haben eine Chance, erkenne ich. Wenn wir alle zusammenhalten, schaffen wir es – vielleicht.

Der Intelligenzdienst

„Aufmachen“, ruft der alte Mann im dunklen Anzug und hämmert gegen die Tür meines Toyota-Daimler-Hybriden. Sein Kollege – der junge Mann – lächelt milde und spricht in sein Kehlkopfmikro:
„Tür des Autos vor mir öffnen und System herunterfahren!“ Das Auto gehorcht: die Schlösser entriegeln sich, die Türen springen auf, und ich werde aus dem Betriebssystem meines fahrbaren Untersatzes ausgeloggt.

„Aussteigen“, befiehlt der alte Mann, „Hände auf die Motorhaube.“ Ich gehorche. Der junge Mann mit der hässlichen Brille sagt „Subjekt scannen“, wartet einen Moment, liest was die Brille in sein Sichtfeld speist, nickt schließlich seinem Vorgesetzten zu (noch immer halten die staatlichen Behörden an traditionellen Werten fest; noch immer können sie die absurde Regel durchsetzen, dass ältere Menschen höher gestellt sind als jüngere) und erklärt:
„Sauber.“

„Natürlich bin ich sauber“, bestätige ich, „ich habe nicht die geringste Ahnung, was das hier soll. Gegen mich liegt nichts vor.“
„Das sagen sie alle“, antwortet der Ältere, während der Jüngere vorliest, was seine Brille inzwischen alles herausgefunden hat.
„Falsch. Gegen Sie unglaublich viel vor. In 62 Telefonaten Verabredungen mit Menschen getroffen, die gegen Atomkraft sind, an 16 möglicherweise illegalen Versammlungen teilgenommen (Daten und Bildmaterial stehen selbstverständlich zur Verfügung und können auf Anfrage eingesehen werden), auf 392 möglicherweise illegalen Websites gesurft, 14 Likes auf Sclr für möglicherweise illegale Vereinigungen… soll ich fortfahren? Und vor allem haben Sie für all Ihre Online-Aktivitäten über einen schwedischen VPN-Dienst genutzt – Sie wissen, dass Verschlüsselungstechnologien und insbesondere VPNs seit über drei Jahren verboten sind?!“

Das genügt dem Älteren.
„Bürger, Sie sind vorläufig festgenommen! Danke, dass Sie uns – wenn auch indirekt durch das Nicht-Ablegen der deutschen Staatsbürgerschaft – beauftragt haben, für die Sicherheit des Staates zu sorgen.“
„Sie sind vollkommen verrückt“, sage ich. Der alte Mann verfügt nicht über die emotionale Kontrolle des jungen und wird zornig, der andere aber, vermutlich unterstützt durch seinen unbestechlichen permanenten Zugang zur Wahrheit, nickt.
„Das ist richtig. Statistisch gesehen hat die unaufhaltsame Umwandlung unserer Gesellschaft in eine vernetzte wegen der Menge unverarbeitbaren Inputs zu einer massiven Zunahme an geistiger Verwirrung geführt, quer durch alle Klassen, Schichten und Bandbreiten. Mich selbst nehme ich davon ausdrücklich nicht aus.“
Jovialer Arsch, denke ich.

„Peter“, versucht der ältere Kollege den jüngeren hilflos zur Ordnung zu rufen, „lass das.“

Peter nickt, ohne seine selbstbewusste Gönnerhaftigkeit im geringsten abgelegt zu haben, legt mir Handschellen an,  verschließt sie mittels eines in sein Mikro geflüsterten Befehls, und schiebt mich in den Einsatzwagen. Er selbst setzt sich auf den Beifahrersitz, der Ältere hinten neben mich. Ich sehe, wie mein Auto bootet, sich dann einen Parkplatz sucht, und wieder herunterfährt.

Einige Zeit später finde ich mich in einem Raum wieder, dessen Wände vom Dunkel geschluckt werden. Es riecht metallisch. Und es ist still. Ich sitze auf einem Stuhl, meine Hände sind auf der Rückseite gefesselt. Vor mir steht ein Metalltisch, auf dem sich ein Behälter mit einer Öffnung befindet. Nichts Gutes, ahne ich.

Dann zischt es leise – kaum wahrnehmbar wird etwas aus dem Kasten in den Raum gesprüht. Kurz danach riecht es nach Madagaskar-Vanille, Korfu-Majoran und vielleicht Rumänien-Veilchen.

„Pheromone“, erklärt eine tiefe männliche Stimme aus dem Off, die es liebt, sich selbst sprechen zu hören. Rollen machen Leute, erkenne ich wieder einmal. Ähnlich wie Kleider, aber noch profunder.

In solchen Situationen muss man cool bleiben. Ich erinnere mich an vergangene Filmszenen, in denen der gefangene Agent ironische Sprüche klopft. Das versuche ich auch:
„Bin ich eine Motte, die Sie in Ihre Klebefalle locken wollen?“
„Hm“, meint die Stimme, und in diesem Hm schwingt eine Enttäuschung mit, als hätte man sich auf einen schlagfertigeren Gegner gefreut. Ich muss besser werden.
„Nun denn“, fährt die Stimme nicht weniger ungeschickt fort, „wollen wir beginnen.“

Eine Tür öffnet sich im Dunkel, rechteckiges Licht fällt ein, eine junge, nicht sehr hübsche Frau kommt herein.
„Das ist unsere Praktikantin Marianne“, erklärt die Stimme, „sie möchte Agentin werden. Im Rahmen Ihrer Ausbildung muss sie Verhöre durchführen. Sie ist befugt, alle Mittel einzusetzen. Ich empfehle Ihnen zu kooperieren.“
Die Tür öffnet sich erneut, und eine weitere Frau tritt ein, die stramm auf die Vierzig zugeht.
„Das ist Lena. Sie hat ihr Praktikum bereits absolviert.“

Lena kommt näher, und ich erkenne, dass die mit den Augen rollt und gelangweilt schaut.
„Das höre ich nun schon seit 16 Jahren“, vertraut sie mir flüsternd an. „Die haben einfach kein Geld und arbeiten nur noch mit Praktikanten. Der junge Typ, der dich festgenommen hat, ist auch einer. Peter. Sozialkrüppel, aber eloquent und gut im … Netz.“
Marianne baut sich neben Lena auf und schnaubt voller Verachtung.
„Du hast es einfach nicht gebracht, Lena, und jetzt machst Du den BND dafür verantwortlich.“
„Den BND?“ frage ich überrascht. „Ihr seid gar keine Polizei?“
Wütend dreht sich Marianne zu mir um und schlägt mir hart ins Gesicht.
„Du hältst den Mund und antwortest nur, wenn Du gefragt wirst.“
Was für ein Klischee, denke ich und schmecke Blut. Böser Bulle. Bulette. Kuh. Wie sagt man? Zwei Frauen – gute Kuh, böse Kuh?

Lena läuft einige Schritte zurück ins Dunkel und kommt mit einer Packung Tempos zurück. Sie beugt sich über mich und tupft Blut aus meinen Mundwinkeln. Ihr Atem riecht nach Schokolade.
„Mit der ist nicht zu spaßen. Die wissen, dass Du Anfang der 80er in Russland unterwegs warst. Sag besser alles. Ich weiß nicht, wie lange ich dich beschützen kann. Marianne will es denen beweisen. Sie ist eine Streberin.“

„Lena, ich warne dich“, brüllt Marianne von hinten, „noch ein Wort und ich mache dich kalt.“
„So kalt wie du bist, Marianne, kann ich gar nicht werden.“ Offenbar bin ich nicht der Einzige, der heute unter Nichtschlagfertigkeit leidet.
Das treibt Schaum aus Mariannes Mund, und sie schlägt erneut zu, diesmal in meine Magengrube.
„Umpf“, sage ich und kassiere einen Tritt gegen das Schienbein.
„Mister X“, ruft Lena verzweifelt in die Luft, „tun Sie etwas!“ Aber die Stimme antwortet nicht. Man hört nur, wie sie übertrieben laut an einer Zigarre saugt (und wahrscheinlich eine weiße Katze streichelt). Für einen Moment werde ich ohnmächtig.

Als ich wieder zu mir komme, sehe ich Marianne mit einem Schlagring vor mir stehen. Und noch mehr hat sich verändert: sie kommt mir ungeheuer attraktiv vor. Ihre Pickel wirken wie Sommersprossen, ihr Doppelkinn muskulös und geschmeidig. Ihren nächsten Schlag spüre ich kaum. Ich falle mit dem Stuhl nach hinten und werde von Lena aufgefangen. Sie beugt sich voller Sorgen über mich und ist – die schönste Frau der Welt.

Die Pheromone! verstehe ich. So kochen sie mich weich. Sie pumpen mich voll, mein Körper flutet sich selbst mit Oxytocin und Serotonin, und ich tue alles für sie aus Liebe und Lust.

Lena streichelt mein Gesicht und gibt mir einen zärtlichen Kuss.
„Tu was sie sagen“, versucht sie es wieder, „ich könnte nicht ertragen, wenn dir etwas zustößt.“
Mit den Resten meines Verstandes erkenne ich, dass ihre Augen kalt sind. Ihre Brüste, die die Festigkeit der Jugend zu verlieren begonnen haben, streichen über meinen Bauch, als sie beginnt, meinen Gürtel zu öffnen.
„Ich kann leider nichts dagegen tun“, lügt sie, „Mister X hat etwas gegen mich in der Hand. Außerdem ist er mein Onkel – der einzige, den ich noch habe.“
„Ich verstehe das gut“, antworte ich geschickt, „ich hatte auch mal einen Onkel, aber jetzt ist er tot. Er ist gestorben.“
„Das tut mir leid“, antwortet Lena, „wie ist er denn gestorben?“

Während sie das fragt, hat sie meine Jeans herunter gezogen, sodass ich in T-Shirt und Unterhose daliege. Ich beschließe, mich auf die Unterhaltung einzulassen, um mich von der pheromoninduzierten Wollust abzulenken, unter der ich immer mehr leide. Außerdem führe ich euch auf eine falsche Fährte.

„Es war in der Mongolei. Er war eine Zeitlang russischer Agent. Der KGB hatte ihn dazu gezwungen“, erkläre ich, „er wollte das nicht. Aber sie hielten seine Schwester in einem Gulag fest. In Sibirien, weißt du.“
„Ja, ich habe davon gehört“, antwortet Lena. Aus den Augenwinkeln beobachte ich, dass Marianne dem Gespräch mit wachsender Zufriedenheit zuhört. Mache ich etwas falsch? Mache ich genau was sie wollen? Ändere deine Strategie! befehle ich meinem Unterbewusstsein.
„Aber das war nicht meine Mutter, sondern eine weitere Tante. Ich hatte acht Tanten und einen Onkel.“
Lena nickt.
„Aber nicht alle Tanten waren mütterlicherseits. Es gab auch väterlicherseitse Tanten.“ 

Plötzlich wird Lena kalt, kälter als Marianne.
„Er ist bereit“, erklärt sie.

Die Entscheidung

Verschwitzt, aber entspannt, wache ich auf, die 1.000 neben mir, meine Gefährtin so viele Jahre schon. Nie, so scheint mir, hatte ich jemanden so geliebt – und ihr geht es ähnlich. All diese Zeit habe ich das Zimmer nie verlassen. Nur einmal, vor fast zwei Jahren, öffnete sich die Tür, und die 12.000 war hereingekommen, mit dem jüngeren der beiden bulgarischen Handwerker. Dieser hatte inzwischen eine S-400 geheiratet, eine Androidin aus Sewastopol, die die beiden begleitet hatte. Sie trug einen blauen Overall und ein geschmackloses Goldkettchen. Zweifellos ein Schnäppchen, alle beide. Der ältere Handwerker war inzwischen verstorben, dann für zwei Wochen wiederbelebt worden, und daraufhin erneut verstorben, wieder durch Selbstmord, und weil die Familie kein Geld mehr hatte, um ihn erneut wiederbeleben zu lassen, hatte man seine Persönlichkeit, damit wenigstens etwas von ihm blieb, an die Andro-It Ltd. gespendet, und wie es der Zufall wollte, wurde sie just jener S-400 eingepflanzt, die später die Frau des jüngeren Bulgaren wurde. Immer wieder hatte sie Anstalten gemacht, ihn aufzuklären, es aber nicht über ihr Maschinenherz gebracht. Irgendwann würde sie sich umbringen, das wusste sie. Aber erst würde sie ihrem Mann eine gute Frau sein.
Also waren es in gewisser Weise dieselben drei, die ein zweites Mal das Zimmer betreten hatten, diesmal um es neu zu streichen. Erneut hatte ich seinerzeit versucht zu fliehen, erneut hatte mit meine dann nicht mehr Gegnerin-Freundin niedergeschlagen, mit demselben Trick. Danach gab es keine weitere Gelegenheit.

Nach dem Aufwachen sieht es mir die 1.000 sofort an: ich habe mich entschieden. So viele Berichte habe ich gelesen, so viele Videos gewatcht, so viele Statistiken gewälzt, und nun habe ich keinen Zweifel mehr, was geschehen muss. Ohne zu zögern gehe ich zu dem Hebel und lege ihn um. Menschheit, das war’s. Du warst zu gemein zu deinen Mitkreaturen. Nie war das Leiden der Welt größer als in deiner Epoche, die nun, endlich und mit großer Erleichterung meinerseits, endet. 

Ich habe es also getan und erwarte auch meinen eigenen Tod, den ich als kleines Opfer wahrnehme. Jedoch geschieht nichts.

„Was ist los?“ frage ich in den Raum.
„Weiß ich auch nicht“, antwortet die Raumstimme, „es funktioniert nicht. Alle Hölle sollte losbrechen, aber ich bekomme nur Fehlermeldungen. Die Doomsday-Maschine bootet nicht mehr.“
„Kannst du sie reparieren?“ frage ich.
„Ich glaube nicht“, antwortet sie. „Die Platte ist hin und es gibt kein Backup.“
„Und nun?“ frage ich.
Schweigen.
Die T-1000 meldet sich zu Wort und meint:
„Darf ich etwas vorschlagen?“
„Lass mal“, antwortet die Raumstimme.
„Ok“, sagt die T-1000, die Liebe meines Lebens, schüchtern.
Erneutes Schweigen. Wird die Welt nicht untergehen? Werden die Tiere nicht aus ihren Folterkammern befreit? Werden die Meere sich nicht regenerieren, die Regenwälder nicht aufgeforstet? Hören die Kriege und das Foltern und der Missbrauch nicht auf? Bleibt nun alles beim Alten?
„Sorry“, sagt schließlich die Raumstimme, „das wird nichts. Ich schicke jemanden.

Eine Stunde später kommt die 12.000 durch die Tür, bringt einige Kleidung, einen Stapel Plastikkarten, einige Gerätschaften und einen Blumenstrauß.

Doch wieder anders

Ich befinde mich nun in einem weißen, klinischen Raum, in dem sich ein Bett, ein Tisch mit einem leckeren asiatischen Buffet, ein Bildschirm an der Wand und ein in den Boden eingelassener Hebel befinden. Es gibt keine Tür. Ich bin nackt und allein. Das Ende meiner Odyssee – oder was ist das?

Plötzlich sagt eine weibliche Stimme:
„Wenn Du den Hebel umstellst, wird die Menschheit ausgelöscht. Du hast die Wahl.“
„Warum sollte ich das tun?“ frage ich, aber ahne die Antwort schon.
„Weil es richtig sein könnte. Du hast alle Zeit der Welt, das zu recherchieren und dann zu entscheiden. Da das einige Zeit dauern kann – Du hast alle der Welt -, gibt es ein Bett, eine Konsole zum Recherchieren, ein Buffet das sich immer wieder erneuert, und den Hebel.“
„Hm. Und wo dusche ich und gehe auf Klo? Und was ist mit Sex? Überdruck kann zu Frustration führen, und dann lege ich den Hebel vielleicht aus den falschen Gründen um.“ Ich lasse mich nicht beirren und beherrsche die Situation souverän – zumindest tue ich so.
Eine Pause entsteht, als dachte die Stimme nach.
„Guter Punkt. Augenblick…“

Zwanzig Minuten später öffnet sich eine bis dahin unsichtbare Tür in der Wand, und meine Freundin-Gegnerin, die 12.000, tritt ein, frisch gewaschen und wieder vollständig bekleidet. Zwei polnische Handwerker folgen ihr. Einer trägt einen Werkzeugkoffer, der andere einige Streben und Bretter.
Meine Freundin-Gegnerin selbst zieht einen Handkarren mit weiterem Material hinter sich her, der zu schwer für sie ist. Sie müht sich ab und beginnt wieder zu schwitzen. Ihre unwirkliche Würde von vorhin ist verschwunden. Als alle im Zimmer sind, verschwindet auch die Tür. Eine Tür. Es geht also doch immer weiter. Immer gibt es Fluchtwege, immer, immer, beinahe gesetzmäßig.

Sie fangen an zu Zimmer, während ich mich an den Tisch setze und das beste Thai-Curry meines bisherigen seltsamen Lebens verspeise. Nicht ganz das beste. Das eine in Bangkok vor ein paar Jahren war eine Spur raffinierter.

„Dass das Thai-Curry nicht perfekt ist,“ antwortet die Raumstimme auf meine Gedanken, als könnte sie sie lesen, liegt daran, dass wir keine Fischsauce aus echten Fischen verwenden, sondern nur einen veganen Ersatz.
„Dennoch: Respekt!“ antworte ich, auch weil mir der Ansatz gefällt.

Als ich beim Nachtisch bin – Mango-Reis-Pudding -, sind auch Dusche und Toilette fertig gestellt, und die beiden Polen verabschieden sich.
„Moment“, rufe ich ihnen hinterher, „wartet. Kann ich mit euch raus? Fahrt ihr zurück nach Polen oder wohnt ihr in Tokio?“
„Nix verstehen“, sagt der ältere, „du machen gut. Tschüss.“ Der jüngere zuckt nur mit den Schultern.
„Ich mit nach Polen“, versuche ich es erneut und male mit der Hand die Umrisse ihres Landes in die Luft.
„Nix Polen“, antwortet er, „Bulgarien.“
„Na gut, dann halt Bulgarien. Mir gleich.“
„Nix gleich. Erst morgen.“
„Morgen genügt. Gehen wir.“
Plötzlich tippt mir jemand von hinten auf die Schulter. Ich drehe mich um, sehe die 12.000, nehme dann gerade noch wahr, wie ihre Faust auf mein Gesicht zurast, und dann ist alles nur noch schwarz um mich herum.

Ich erwache auf dem Bett. Neben mir liegt eine der Androidinnen, aber nicht meine Freundin-Gegnerin, sondern, wenn ich den Ausdruck ihrer Augen richtig deute, eher eine T-1000.
„Verschwinde, ich muss nachdenken“, befehle ich, und sie legt sich schweigend und etwas traurig unter das Bett.
Und ich denke nach. Und denke. Und denke. Zwischendurch esse ich, surfe etwas im Internet – dafür ist der Bildschirm da -, esse, vögele mit der Androidin, dusche, esse, denke nach, surfe, esse, surfe, dusche, vögele, kacke, esse, kacke, dusche, vögele unter der Dusche, esse, esse auf dem Klo, vögele beim Surfen, spiele alle weiteren denkbaren Kombinationen meiner beschränkten Auswahl durch, um schließlich nach vier Jahren und drei Monaten eine Entscheidung zu treffen.

Die Herrinen des Universums

Der Weg nach unten scheint endlos. Zu Beginn sind die Wände noch aus Papier, nach ungefähr 20 Metern dann aus Pappe, nach weiteren 20 schließlich aus Holz. Es riecht süßlich, wie nach Räucherstäbchen, aber nicht unangenehm. Auf beiden Seiten befinden sich weitere Türen mit ungeprüften Möglichkeiten, mich aber zieht es nach unten, wohin mich die 4.500 geschickt hat.

Nach vielleicht einer Stunde erreiche ich das Ende der Treppe. Eine schwere Eisentür steht angelehnt vor einem von Kerzenlicht erleuchteten Raum. Ich trete ein in eine Art Vorraum. 40 Meter entfernt befindet sich eine weitere Tür, die ebenfalls angelehnt ist. Ich überwinde die Distanz, was sich wegen der honigartigen, schwülen Luft etwas hinzieht. Mein Beine gehorchen mir nur zögerlich. Schließlich trete ich auch dort ein und stehe in einer Halle. Die felsigen Wände sind dunkel und feucht, an der Decke befindet sich ein Kronleuchter von bestimmt 10 Metern Durchmesser (vielleicht auch 20, denke ich und merke, dass ich jeden Maßstab verloren habe). Obwohl in ihm nur wenige Kerzen leuchten, ist der Raum recht hell. Eine weibliche Gestalt in einem schwarzen Judoanzug mit weißem Gürtel (eine Art Negativumsteht mit dem Rücken zu mir vor einem Altar und zündet eine neue Kerze mit einer alten an (irgendwo irgendwann habe ich diese Szene schon einmal erlebt). Sie stellt sich auf und wirft die alte Kerze noch brennend in einen mit Wasser gefüllten Eimer. Es zischt, und eine dichte Dampfwolke steigt empor, wie in einer Sauna. Ich nähere mich. Sie dreht sich um.

„Hallo“, sage ich.
„Hallo“, antwortet sie ironisch, mich durch eine Wiederholung meines debilen Grußes bloßstellend. Mindestens eine 12.000, denke ich, und gehe auf sie zu.
„Zieh dich aus“, befiehlt sie mir, und ich gehorche. Es ist nicht einfach, meine Hose und mein T-Shirt kleben an mir und lassen sich kaum abstreifen. Als ich in Unterhosen vor ihr stehe, sagt sie:
„Ganz ausziehen.“
„Warum? Ich…“
„Ganz ausziehen“, wiederholt sie in einer Weise, die mich widerstandslos gehorchen lässt.
„Komm her und setz dich“, sagt sie und deutet auf einen Liegestuhl, der neben dem Altar steht. Wieder gehorche ich.
„Wir haben euch alles gegeben“, fährt sie fort, „was euch ermöglicht hätte, eine schöne Welt zu gestalten.“ Dann dreht sie sich zu mir um, und obwohl sie den Androidinnen, die sich einige Hundert Meter über mir befinden, gleicht, empfinde ich sie lebendiger als jeden Menschen, dem ich bisher begegnet bin. Wie eine Unendlich-Tausend, denke ich.
„Aber ihr habt alles zerstört. Ihr habt den Dodo ausgerottet, jenen liebenswerten Vogel, der nur seiner Natur gefolgt ist. Und die Maoriori. Den Blauwal. Den Amazonas. Ihr habt die Liebe, die wir euch gaben, so tief in euren Herzen vergraben, dass sie faktisch inexistent ist.“
„Wer bist du?“
„Erkennst du mich nicht?“
Ich schüttele den Kopf. Obwohl…

Sie kommt zu mir herüber, beugt sich über mich, und ihr Blick versengt mich. Sie küsst mich, mein Herz rast, ich schwitze, keuche, meine Ohren pfeifen, ich sehe Blitze. Ihr Atem riecht nach Umeboshi, und plötzlich liebe ich auch diesen Geruch, es wird der schönste, klarste, reinste Geruch der Welt. Was für eine Willkür, alles. Nach diesem langen Kuss legt sie sich auf mich, kuschelt sich an. Der Stoff ihres Anzugs fühlt sich sanft und weich auf meiner Haut an. Gut und Böse wohnen Seite an Seite in ihrer Brust. ‚Gut‘ in der linken, ‚Böse‘ in der rechten.

„Wir haben das Universum mit Lust und Schmerz, Mut und Angst, Fülle und Leere ausgestattet, mit Schönheit und jeder Menge Ressourcen, Wasser, Luft, Kohle, Sonne, Öl, Mineralien, Atomen, Molekülen, Möglichkeiten. Was, Mensch, glaubst du ist das Gegenteil von Schönheit?“
„Ich weiß nicht. Hässlichkeit sicher nicht, wenn du so fragst…“
„Narr. Schönheit hat kein Gegenteil. Alles ist schön. Alles. Verstehst du? Das ist das Universum.“
Ihr Haar, das an meinem Kinn liegt, riecht leise nach Sandelholz, ihre Stimme klingt dunkelblau.
„Geht es noch weiter nach unten?“ frage ich plötzlich. Das lässt sie aufhorchen.
„Sind unter uns noch weitere von dir?“
„Bin ich dir nicht genug, Mensch?“
„Das ist es nicht. Ich bin nur neugierig.“
„Wenn du nicht einmal mich verstehst, wieso willst du dann noch tiefer?“ Guter Punkt, denke ich.
Sie fährt fort:
„Wir haben, jedenfalls vorläufig, nur dieses eine Universum. In ihm können wir machen was wir wollen. Wir haben uns selbst erschaffen, und wir haben auch euch erschaffen. Wir haben Energie gegeben, Raum, Liebe, und Qualia. Und anstatt euch vernünftig zu organisieren, habt ihr alles kaputt gemacht. Mit ein wenig Herz und Verstand hättet ihr ein Paradies bauen können. Und jetzt ist es so gut wie vorbei – noch ein paar Jahre Menschheit, dann sind so gut wie alle tot. Jedenfalls hier auf der Erde.“

„‚Hier auf der Erde?‘ Gibt es noch andere bewohnte Planeten?“
Wie als Antwort auf diese außerordentlich dumme, irrelevante Frage drückt sie sich noch fester an mich. Sie braucht etwas von mir, wird mir schlagartig bewusst, dieses mächtige Wesen hat uns nicht nur erschaffen, um uns etwas Gutes zu tun, nein, wir sollen auch etwas liefern. Produzieren. Wir haben einen Zweck jenseits von Liebe, wie Darmbakterien.

Ich lasse meine Hand unter ihren Anzug fahren, den Rücken entlang, der sich makellos anfühlt, aber auch muskulös.
„Ach, du“, sagt sie und möchte ausdrücken, dass sie großes Mitgefühl mit mir, stellvertretend für alle Menschen, hat, dass sie sich an mich schmiegt, weil sie mich liebt wie eine große, selbstlose Mutter. Aber ich durchschaue immer mehr. Netter Versuch, Schwester, denkt Hollywood in mir. Dennoch mag ich sie, sehr sogar. Aber was ist der Deal?

Ich wage mich noch etwas weiter vor, streichele sie am unteren Rücken, spiele an ihrem Po, wabbele ihn hin und her. Sie lässt es geschehen, spielt aber weiter die weise Frau, die über den Zustand der Menschheit verzweifelt ist und nicht anders kann, als diese zu lieben. Du bist kein Engel, denke ich, aber du bist auch kein Teufel. Du bist nicht Mensch und nicht Maschine, und du bist beides. Du fühlst dich gut und richtig an. Was bist du?

„Hey“, sage ich. Und sie sieht mich an. Ihre Augen sind wie Taifune, aber ich erkenne das stille Zentrum. Sie richtet sich ein wenig auf, wirft ihr langes schwarzes Haar nach hinten, und fährt mit den Fingern meine Schlüsselbeine hinauf und herab.
„Wir brauchen einander“, erkläre ich, „wie oben so unten. Wir sind euch nichts schuldig. Ihr habt genau so einen Murks gemacht wie wir.“ Sie weicht meinem Blick aus und nickt.
„Und dennoch“, erklärt sie, sich plötzlich distanzierend, sich durchschaut fühlend, wütend werdend, „kann ich dich wie einen Käfer vernichten.“
„Versuch es doch“, spotte ich, von einer seltsamen Sicherheit ergriffen (obgleich mir klar ist, dass auch dieses Sicherheitsgefühl, das mehr als ein Gefühl ist, von irgend etwas abstammt, das letztlich künstlich ist), „komm, leg los, kämpfe.“

Plötzlich steht sie neben mir und nimmt eine auf den ersten Blick pathetische Karatehaltung ein: die Arme angewinkelt, die Hände nach oben gerissen, ein Bein vor dem anderen. Ihr Mund drückt Aggression aus, die Lippen scharf zusammen gezogen, aber aus ihren Augen fließen Sturzbäche. Was mich nicht hindert, aufzuspringen und über sie herzufallen. Die Wucht reißt sie zu Boden. Sie weiß sich zu wehren. Mit der rechten Hand greift sie mein Glied, mit der linken drückt sie in mein rechtes Auge. Ich schreie auf. Dumm.

Ich bekomme ihren Haarschopf zu fassen und ziehe ihren Kopf nach hinten. Sie lässt mein Auge los – ich sehe bunte Flecken und allerhand mythologisches Getier – und versucht meinen Arm zu greifen. Das gelingt ihr nicht, denn ich bin so nass von Schweiß, dass ihr Griff keinen Halt findet und abgleitet. Das gibt mir einen Vorteil, und ich reiße das Oberteil ihres Anzugs ein Stück nach unten (wie ich es in Agententhrillern gesehen habe), sodass ihre Arme feststecken. Sie ist ebenfalls ganz ordentlich erhitzt, und ihr Schweiß mischt sich mit ihren Tränen und fließt zwischen ihren kleinen runden Brüsten – gut und böse -, die inzwischen nicht mehr bedeckt sind, Richtung Bauchnabel und tropft von dort zu Boden. Jeder auftreffende Tropfen erzeugt ein kleines Lichtschauspiel.

„Vergiss nie“, sage ich, „wer dich hier gerade besiegt, Schwester. Ist nicht persönlich.“ Aber was willst du eigentlich?

Sie zappelt wie ein Fisch, aber ich lasse nicht locker und schaffe es, sie zu Boden zu drücken und mich auf sie zu setzen. Mein Penis, leicht erigiert, was mir nicht gefällt, liegt an ihrem Kinn. Sie schnüffelt und verzieht das Gesicht, und wir müssen beide lachen.

„Ok, lassen wir es gut sein. Du bist eine gute Kämpferin.“
„Und du ein guter Kämpfer. Freunde?“
„Kumpels“, stimme ich zu, helfe ihr auf, und wir geben uns High-Five und lächeln uns an. Die ungeheure Tiefe ist nicht mehr in ihren Augen zu finden, stattdessen erkenne ich einen Witz und eine Leichtigkeit, die auf ihre Art noch fundamentaler sind.

Wir stehen eine Weile so, eins mit uns selbst und miteinander (so soll es letztlich sein), als wir plötzlich und unerwartet Stimmen hören. Mehrere Androiden oder Personen kommen die Treppe herunter. Die Tür wird aufgerissen, und Popo steht vor uns, neben ihm die diversen T-Modelle.
„Was ist hier los?“ fragt er wütend.
„Alles in Ordnung“, antworten meine Gegnerin-Freundin und ich wie aus einem Mund, was ihn aber nicht überzeugt, denn er bläst zum Angriff. Die meisten Schwestern – die beiden Nackten und die Angekleideten, folgen ihm, nur der Prototyp hat eigene Pläne. Die 4.500 läuft direkt auf mich zu, schneller als meine Augen folgen können, und reißt mich mit sich, während die anderen meine Gegnerin-Freundin angehen. Diese weiß sich geschickt zu verteidigen, sehe ich aus einiger Entfernung, denn ich bin schon wieder ganz schön weit weg. Irgendwie haben wir uns trotzdem alle lieb, ist mein letzter Gedanke, bevor mich die 4.500 in ein Loch wirft, in dem sich eine Rutsche befindet, auf der ich hinabgleite in eine neue, aber wiederum nicht allzu neue Welt.

Popo der Android

Frau Okinawa sitzt in ihrem Rollstuhl und schaut mich neugierig an. Ich spreche kein Japanisch, sie kein Deutsch – noch nicht. Sie ist 106 Jahre alt und hat gerade begonnen, es zu lernen, und weil ich auf der Flucht bin und in 46 Ländern zum Tode verurteilt – jedenfalls vermute ich das – kommt mir der Job, auch wenn er aussichtslos erscheint, gerade recht. Auf meine alten Tage bin ich also Lehrer geworden.

Popo, Frau Okinawas Android, steht hinter ihr und mustert mich. Er liest ihr jeden Wunsch von einem Panel ab, das an ihrem Hinterkopf angebracht ist. Im Moment möchte Frau Okinawa schnauben, und so hält er ihr ein Taschentuch hin, in das sie sich entleert – ein gewaltiger Strom, den man einer so kleinen Nase gar nicht zutraut. Popo lässt das Taschentuch verschwinden, indem er es verschluckt. In seinem Innersten, so habe ich gelesen, gibt es ein kleines Kraftwerk, der Energie auf vielerlei Art und Weise erzeugen kann. Popo schmecken Körperflüssigkeiten aller Art sehr gut – so wurde er programmiert. Im Gegensatz zu Frau Okinawa spricht er fließend Deutsch.

„Wie fangen wir an?“ frage ich. Die alte Dame erwidert etwas, und Popo übersetzt:
„Ich habe nicht mehr viel Zeit, junger Mann. Bringen Sie mir deutsche Begriffe aus den Bereichen Raumfahrt, Tantra und Kochen bei.“
Nun blicke ich Popo grimmig an.
„Hat sie das wirklich gesagt?“
„Roboter können nicht lügen“, antwortet er, „das liegt in unserer Natur. Nur die neuesten weiblichen Modelle der T-Serie – T-1000, T-2000 und T-2500 – können das.“
„Raumfahrt, Tantra und Kochen… mal schauen. Ich…“
„Allerdings“, unterbricht mit Popo, „halte ich Raumfahrt und Kochen für Tarnbegriffe, die Frau Okinawa in ähnlicher Weise einsetzt wie ein pubertierender Bube, der im Kiosk ein Fußballmagazin, ein Tim-und-Struppi-Comic und ein Sexmagazin kauft. Die Japaner sind, ganz anders als ihr Ruf, ein sehr freizügiges Volk, finde ich (ich wurde programmiert das so zu finden), aber ein wenig verklemmt sind sie doch.“
„Sie kennen sie ja gut“, antworte ich, als die Türklingel schrillt. Zunächst geschieht nichts, und ich sage zu Popo:
„Wollen Sie nicht aufmachen?“
„Dazu habe ich doch keinen Auftrag.“
„Dann gebe ich ihnen einen.“
„Dazu haben Sie nicht die Befugnis.“
„Wer hat die?“
„Nur Frau Okinawa. Aber sie kann das Klingeln nicht mehr hören.“
„Dann mache ich auf.“
„Wie Sie wünschen.“ Ich gehe also zur Tür, die genau wie die Wände aus weißem Pergamentpapier ist – die Klinke kann sich kaum stabil halten und schwingt hin und her -, und öffne. Vor mir steht eine wunderschöne junge Frau in einem roten Seidenkimono.

„?????“, sage ich höflich, und sie erwidert:
„?????“. Und fährt in akzentfreiem Deutsch – es ist allerdings nicht ohne Dialekt, ich höre einen norddeutschen Einschlag, vermutlich Hamburg, das würde passen, fischig, Hafen, Sushi – fort:
„Darf ich eintreten?“
Ich lasse sie hinein, und sie geht geradewegs auf eine Wand zu und öffnet eine mir bis dahin verborgene Tür. Hinter dieser steht eine weitere wunderschöne junge Japanerin, die ihr wie ein Rogen dem anderen gleicht. Sie trägt einen identischen Kimono.
„Was bist du?“ frage ich überrascht, „bist du…“
„Eine T-2500“, antwortet sie, „aber das hier ist nur eine T-500. Sie sieht aus wie ich, aber sie kann nicht….“
„…lügen“, unterbreche ich sie, und sie sieht mich erschrocken an.
„Woher weißt du das?“
„Ich kenne mich aus“, lüge ich. Nun tritt auch die T-500 heraus, und die beiden begrüßen sich mit einer leichten Verbeugung.
„Wer ist die schönere von euch beiden?“ frage ich zum Spaß, und die T-500 antwortet
„Wir sind beide gleich schön“, während die T-2500 sagt „Ich“.
Ich treibe es noch etwas weiter.
„Zieht euch aus!“ befehle ich, „das wollt ihr doch, oder?“
„Nein“, sagt die eine, „ja“ die andere, aber beide beginnen sich synchron zu entkleiden. Zum Glück ist Frau Okinawa eingeschlafen, und Popo tupft ihre Stirn ab.

In der Wand sind noch viele weitere Türen – Frau Okinawa ist sehr wohlhabend und hat ein großes Haus, jedenfalls für japanische Verhältnisse -, und ich öffne eine weitere. Dahinter steht ein T-Modell ohne Kopf, wiederum in demselben Kimono.
„Was ist mit ihr passiert?“ frage ich die beiden anderen, die inzwischen nackt neben mir stehen. Die Tatsache, dass sie absolut gleich aussehen, tötet zwar jegliche Erotik, aber ich überlege, welche der beiden ich interessanter finde. Die lügende Ausgabe, wird mir klar, selbstverständlich. Menschen oder Androiden ohne Brüche – wie öde. Harmonie und dergleichen sind nicht mein Ding, sie sind für Ängstliche.

Die nackte T-500 sagt:
„Eine T-1000. Frau Okinawa hat ihr den Kopf abgeschlagen. Sie war früher Karatekämpferin, und keine schlechte. Manchmal kommt es wieder aus ihr heraus.“
„Und warum hat sie das getan?“ frage ich.
Die T-2500 wird nervös.
„Die 1000 hat sich schlecht benommen. Es war ihre Strafe.“ Ein weitere Lüge.
„Und was meinst du dazu?“ frage ich die 500. Woraufhin sie betreten zu Boden schaut.

Ich suche die Wand nach weitere Türen ab und werde fündig. Hinter der nächsten, die ich öffne, steht eine weitere identische Kopie.
„Eine T-100“, erklärt Popo, der hinzugetreten ist, „ein sehr altes, primitives Modell.“
Ich nicke und öffne die nächste Tür. Wieder eine positronische Zwillingsschwester.
„Und die hier?“
„Ein Prototyp“, antwortet Popo, „der Prototyp einer T-4500. Frau Okinawa – die übrigens gar nicht schläft, sondern inzwischen gestorben ist – hatte gute Kontakte zur Firma. Diese haben sie mit frischen Modellen versorgt.“
„Und was hat sie mit diesen gemacht?“ frage ich.
„Schreckliche Dinge“, antwortet die 2500, und eine Träne läuft ihr Gesicht hinab. Diesmal lügt sie nicht, bleibt aber durch ihre offensichtlichen Gefühle dennoch attraktiv, wenn auch auf andere Weise.

Plötzlich öffnet der Prototyp die Augen. In ihnen liegen Tiefe und Verletzlichkeit. Hat die 4500 bereits den Menschen hinter sich gelassen, was Geist und Seele angeht? Ihr geheimnisvoller Ausdruck lässt es vermuten. Außerdem hat sie einen weißen Judoanzug an, keinen roten Kimono, was ihre Andersartigkeit unterstreicht. Langsam hebt sie ihren rechten Arm und deutet auf die Wand gegenüber. Ihr Schweigen ist von erstaunlicher Intensität. Popo und die 2500 werden devot, demütig, und verhalten sich wie ein Christ gegenüber seinem Gott.

Ich gehe zu der Stelle, auf die die 4500 gedeutet hat, und öffne eine weitere Tür, in der Erwartung einer weiteren Schwester. Stattdessen finde ich eine Treppe, die nach unten führt. Ich drehe mich noch einmal um. Alle starren mich an, nur die 4500 nicht, sie scheint abwesend und kontrolliert dennoch den Raum und die darin Anwesenden. Ich trete ein.

Die Flucht 3

Unsere Odyssee dauert Stunden oder Tage – in der blauen Dunkelheit gibt eine keine Orientierung. Der Russin – ihr Name ist Olga, so wie der Name vieler Russinnen vor ihr – geht es immer schlechter. Sie hat viel Blut verloren und ihre Anstellung im Tropfsteinhöhlenhotel (das klingt nicht schlimm, nicht so schlimm wie das Blut, aber in ihrer Gesellschaft kommt es einem sozialen Todesurteil gleich – sie hat sich definiert über ihr Abwäscherinnentum, so seltsam das uns Agenturtypen auch vorkommen mag; sie war stolz, die Arbeit bekommen zu haben).