Die Delegation

Schließlich wird es Abend – auch wenn der Nachmittag außergewöhnlich lange gedauert hat -, und wir beginnen mit der Errichtung eines Nachtlagers. Olga, die Pilotin, und Olga, die Flugbegleiterin, haben die Führung übernommen. Sascha kümmert sich um das Rotwild, das einen Kreis um das Flugzeug bildet und irgendwie bedrohlich wirkt. Die Tiere starren uns Menschen an wie besessen von einer unheimlichen Intelligenz.

Die grobschlächtigen Passagiere der Klasse unterhalb der Economy – allesamt ungehobelte Gesellen ohne Sinn für Humor, ohne Teamfähigkeit, ungebildet – können oder wollen sich nicht unterordnen und drohen, die Gruppe zu verlassen. In ihren Reihen sind schon des öfteren Streits ausgebrochen, die teilweise blutig endeten. Es gab drei Tote und acht Schwerverletzte, die dringend ärztlich behandelt werden müssen. Olga 2 – die Pilotin hat sich selbst als 1 gezählt, was Sinn macht, eine Pilotin ist mehr als eine Stewardess – erstellt eine Liste der Berufe und Fähigkeiten der Passagiere aller Klassen. Es sind einige Ärzte darunter, auch Psychologen und Architekten. Letztere haben mit der Konstruktion von Zelten aus Planen, die wir im Gepäckraum gefunden haben, begonnen, zunächst nur auf dem Papier. Sie haben sich sehr schnell untereinander zerstritten. Wir werden wohl im Freien übernachten.

Was ein Problem darstellt, denn es wird immer kälter, je tiefer die Sonne sinkt. Kurz nach 19 Uhr Ortszeit fällt Hans in ein Alkohol-Koma. Achtundzwanzig der Unter-Economy-Leute reißen sich ihre Kleidung von den Leibern und verschwinden in den russischen Urwald, von ihnen werden wir nie wieder etwas hören oder sehen, sie werden neue Arten bilden, die vielleicht auch irgendwann Intelligenz entwickeln, man wird sehen. Auch die Vierte Klasse hat sich zurückgezogen, niemand hat ihr Verschwinden bemerkt. Es waren Mitglieder der Kaste der Unberührbaren, sie haben Geld dafür bekommen, mit der Maschine zu fliegen – auf diese Weise versucht der oberste Sowjet, der niedrigsten Klasse der Union etwas Selbstbewusstsein zuzuschanzen. „Solange noch jemand unter dir steht“, lautet ein kasachisches Sprichwort, „ist dein Haupt oben.“ Der sowjetische Motivationsminister, Nursultan Aliyev, stammt aus Kasachstan und brachte das entsprechende Gedankengut ein (das allerdings nicht allen Kasachen gemein ist, die meisten sind sehr nett).

Es stellt sich heraus, dass die zwei schwarzen Schönheiten – inzwischen muss man sie wirklich als schön bezeichnen, betrachtet man den glänzenden Schweiß auf ihren muskulösen und dennoch feinen Körpern, die roten, lustvollen Lippen, die tiefen dunklen Augen – Besitzerinnen von Hotelketten sind, die anzupacken verstehen. Sie haben in Tokyo – also war es Tokyo und nicht Peking – Bettgestelle und Futons für eines ihrer neuen Hotels im Sudan erstanden (eigentlich wollten sie gar nicht nach Moskau, sie haben auf dem Narita Airport das falsche Flugzeug bestiegen; der Narita-Flughafengesellschaft war die Lizenz für die lateinischen Zeichensätze, die sie eigentlich auf ihren Anzeigetafeln verwendet, entzogen worden, und sie musste sich bis zur gerichtlichen Klärung darauf beschränken, Starts und Landungen nur noch auf Japanisch, Chinesisch und Koreanisch anzuzeigen, was viele Reisende und auch internationale Crewmitglieder verwirrte; Uhura, die jüngere der beiden Frauen, verstand zwar perfekt Mandarin, hatte aber ihre Brille im Hotel vergessen, und ihr unscharfer Blick konnte die Zeichen für Karthoum und Moskau nicht auseinanderhalten).

Die Schwarzafrikanerinnen brechen also einen der Frachträume der Iljuschin auf und beginnen, ihr besonderes Gepäck zu entladen. Der Ölprinz schickt ihnen zwei seiner Frauen zu Hilfe, die dritte fächelt ihm mit einem notdürftig genähten Fächer kühle Luft zu. Er hat den komatösen Hans ins Gras gelegt („Das ist besser für ihn“, hat er allen, die es hören wollten, auf arabisch gesagt) und sich nun selbst auf die Liege aus Fahrwerk niedergelassen. Nach kurzer Zeit stehen 280 Bettgestelle mit Futons in der Landschaft, notdürftig bezogen mit Laken aus Fallschirmstoff und uigurischer Bettwäsche mit Daunenfüllung, die sich zufällig im hinteren Teil des Frachtraum befand, vergessen auf einem Flug von vor 20 oder 30 Jahren. Da war Olga – beide Olgas – noch ein Kind.

Ich sehe, wie Olga 1 über eine Karte gebeugt ist und grübelt, während Olga 2 an einem Tisch sitzt, der aus einem der Höhenruder gebaut wurde. Sie hat die Verteilung der Betten übernommen, es hat sich eine Schlange gebildet. Die wenigen Passagiere der Business Class werden auf einer kleinen Anhöhe schlafen, etwas abgeschirmt vom Volk und mit mehr Platz um ihre Betten herum. Mit Vorfreude sehe ich, dass auch die Cabin Crew ihre Betten dort aufgestellt hat und dass beide Olgas die ihren rechts und links neben meinem platziert haben. Olga 1 winkt mich und Uhura zu sich, sie hat etwas gefunden, plötzlich.

„Schaut mal“, sagt sie, spricht dabei aber nur Uhura an, als wollte sie mich provozieren oder mir klar machen, dass mein Status etwas geringer ist, vielleicht aufgrund meines Berufs, an den ich mich – wohl wegen des Schocks, schließlich war ich in Lebensgefahr – nicht genau erinnere, wahrscheinlich habe ich gar keinen, sondern eher viele verschiedene, die ich aber allesamt nicht richtig beherrsche. Vielleicht will sie auch etwas anderes von mir und ist gespalten, weil ihr Mann – den sie mehr und mehr verachtet, wofür sie sich schuldig fühlt – im Sterben liegt, nicht weil er ernsthaft krank wäre (auf einen Russen hat Alkohol keine nennenswerte Wirkung), sondern weil er das Interesse am Leben verloren hat. Noch ist er nicht tot, sagt sie sich, und solange er noch lebt, fange ich keine neue Beziehung an, es sei denn er lebt noch sehr lange, mehrere Wochen vielleicht, das könnte ich nicht ertragen. Schließlich bin ich jung, zwar nicht mehr so jung, eher in der Mitte des Lebens, aber zu jung um neben einem frustrierten Alkoholiker einen tristen Alltag zu fristen. Dieser Mann hier, der ist eine Alternative, er gefällt mir. Deswegen habe ich dafür gesorgt, dass er neben mich gebettet wird, aber damit das nicht auffällt – und vielleicht auch damit eine gewisse Symmetrie, die mir entgegen kommt, auch ich habe Neurosen, hergestellt wird – habe ich die andere Olga an die andere Seite manipuliert. Ich muss aber aufpassen, der Mann scheint auch ihr zu gefallen; notfalls spiele ich meinen höheren Status aus. Das denkt sie, und sie sucht unsere Position auf der Karte, vielleicht möchte sie aber auch sicher sein, dass wir in keinem muslimischen Land gestrandet sind, nach dessen Gesetzen ich bis zu vier Frauen nehmen könnte, sollte es dazu kommen. Aber eigentlich ist sie, nein, sind wir alle uns sicher, dass es sich um Sibirien handelt.

„Schaut mal“, sagt sie also, „hier in einiger Entfernung gibt es eine Art Kiosk. Und sogar ein altes Kino. Wir haben zwar genug zu essen, aber alle Getränke sind bei der Bruchlandung umgekippt und ausgelaufen. Vielleicht könnten wir jemanden schicken, um etwas Sprudel, Kaffee und einige Karaffen Wein zu kaufen. Eine Delegation in die Ausläufer der hiesigen Zivilisation.“
Uhura nickt.
„Ich stelle ein Außenteam zusammen, wir brechen morgen in aller Frühe auf. Welche Währung gilt hier?“ Olga 1 denkt nach und sieht mich zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs an. Diese Chance will ich nutzen, um meinen Wert und meine Kompetenz zu beweisen und mir einen Platz in der Führungsebene zu sichern, und wenn nicht in der Führungsebene, dann doch wenigstens an einer der oberen Stellen. Die Tatsache, dass ich ein Ticket der First Class mein Eigen nenne, verliert nach und nach ihre Bedeutung, je mehr die Iljuschin zerfällt – ich muss handeln. Außerdem möchte ich von Olga (von Olga 1, aber eigentlich von beiden) nicht nur privat wahrgenommen werden, sondern auch professionell. Leider habe ich keine Ahnung vom aktuellen Thema, aber ich möchte etwas Wichtiges beitragen, mein Hirn ackert, ich versuche meinen Instinkt zu aktivieren und dabei gleichzeitig nachdenklich zu wirken, bis ich schließlich sage:
„US Dollar sind überall gern gesehen, ich würde sie aber mit Deutschen Mark ergänzen, die Kombination ist sehr stark.“ Einige Sekunden unerträglicher Spannung verstreichen, bis – das hätte ich nicht zu träumen gewagt – sowohl Olga 1 als auch Uhura nicken und letztere meint:
„Ich werde von jeder Währung einen Teil sammeln.“ Und auch einige Rubel, denkt sie sich hinzu.

Während die Vorbereitungen für den Einsatz laufen und ich noch im Rausch der mir zugewiesenen Anerkennung schwelge, schaut Fatima in den Himmel und stellt weitere Betrachtungen an, sinniert über das Leben. Ob, wenn es auf anderen Planeten Leben gibt, dieses dort ebenso funktioniert wie hier? Ob es ebenso aus Kampf, Unsicherheit, Sinnsuche und Unbehagen besteht? Oder ist es eher so wie in unseren Geschichten, unseren Filmen und Träumen? Muss das Leben so sein, oder gibt es andere Leben, Leben, die einfach reibungslos funktionieren und entspannt sind und dennoch intensiv…

Mir gefällt Fatima, aber ich werde keinen Kampf mit dem Ölprinzen riskieren. Außerdem müssen wir alle zusammenhalten, wenn wir überleben und morgen den Kiosk finden wollen. Die Olgas und Uhura diskutieren über die Zusammensetzung des Teams. Sascha, die nach ihrem kurzen, intensiven Herzkontakt mit dem Kitz wieder in ihre alte Persönlichkeitsstruktur zurückgefallen ist, läuft mehrmals an dem improvisierten Tisch vorbei, an dem unser Meeting stattfindet. Sie möchte eingeladen werden, dabei sein, Bedeutung haben. Gleichzeitig hat sie Angst, dann keine schlauen Dinge sagen zu können, sich vielleicht zu blamieren und in der Gunst Olgas der Ersten, deren Position sie noch vor kurzer Zeit am liebsten übernommen hätte, die sie inzwischen aber als Führerin akzeptiert, unwiderruflich zu sinken. Wir bitten sie aber nicht zu uns, zu gut fühlt es sich an, auf diese Weise bewundert und begehrt zu werden. Wir bleiben sogar länger als nötig sitzen und tun so als gäbe es noch allerhand zu besprechen, nur um uns noch etwas diesem Gefühl hingeben zu können, gegen das – das zeigt sich immer wieder – keiner von uns immun ist (außer einer buddhistischen Nonne, die einen Fensterplatz in der Economy hatte und unermüdlich damit beschäftigt ist, sich um die Verwundeten zu kümmern).

Es ist Zeit, schlafen zu gehen. Die Passagiere der Sub-Economy haben ihren Status verinnerlicht, sie versuchen gar nicht, an eines der Betten zu kommen. Die Passagiere der Economy empören sich ein wenig über die Behandlung der unter ihnen stehenden, bieten aber auch nicht an, die Betten mit diesen zu teilen, eher fordern sie vom Führungsteam – also von uns, obwohl ich mir meines Status nicht sicher bin -, es möge für die Sub-Economy ebenfalls Betten bereitstellen, es seien schließlich auch Menschen. Es bleibt jedoch bei der Forderung, was Olga 2 und Uhura längst wissen, weswegen sie kein bisschen reagieren.

Die Sonne scheint flach am Horizont stehen geblieben zu sein (eine Unlust schlafen zu gehen, ähnlich der eines Kindes – vielleicht ist unsere Sonne ein kosmisches Kind), während sie die Tundra in ein karmesinrotes Licht tränkt, dessen Dichte in der Luft bereits fühlbar ist. Die Bewegungen von uns allen werden langsamer, honigartiger. Der Dampf, der sich vor unseren Nasen und Mündern bildet, stabilisiert sich, wird manifester Atem, bildet Karikaturen von Wolken, die immer voller werden, je mehr wir ausatmen. Die Temperatur sinkt unter den Gefrierpunkt. Die wenigen verbliebenen Sub-Economy-Passagiere kuscheln sich im hinteren Teil des Rumpfes der Iljuschin, der noch relativ intakt geblieben ist, zusammen und bilden eine Einheit. Wir anderen putzen uns die Zähne – diejenigen jedenfalls, die Zahnbürsten in ihrem Handgepäck hatten und deren Handgepäck beim Aufprall nicht aufgeplatzt ist; die anderen starren sie neid an, nicht weil sie sich sonst die Zähne putzen, abends und morgens gar, nicht weil es ihnen um die Pflege ihres Zahnfleisches, Parodontose-Prophylaxe und diese Dinge ginge, sondern weil sich ein weiterer, wenn auch kleiner, unbedeutender (aber was ist in Dingen der Macht schon unbedeutend?) Hierarchieraum geöffnet hat – und bereiten uns auf die Nacht vor.

Der Fall

Olga, deren gutes Herz sich trotz all dem Chaos noch um ihre Passagiere sorgt, drückt mich in den Sessel, schließt im Taumel meinen Sicherheitsgurt, und zieht sich dann mit letzter Kraft auf meinen Schoß. Ich bin überrascht wie schwer sie ist. Ihr Gesäß in meinem Schoß fühlt sich gut an, auch wenn der billige russische Stoff etwas juckt. Wir verlassen den Canyon, die Sicht ist frei. Wir leben alle nur eine Lüge, denke ich, als die Maschine in der sibirischen Taiga auf einer Lichtung bruchlandet.

Die Flügel brechen ab, ebenso das Fahrwerk, der Rumpf schlittert einige hundert Meter über den Boden und wird schließlich von einer Baumschule abgebremst und dann von einer Horde Rotwild zum vollständigen Stillstand gebracht. Sascha öffnet die Tür und steht einem Bambi gegenüber, das sie mit großen Augen anschaut. Dessen Eltern und Großeltern sind über den Rumpf verschmiert. Sie taumelt, überlegt kurz, ob sie das Flugzeug verlassen und einfach wegmachen soll, schaut dann aber ins Innere der Maschine, wo sich die Passagiere sammeln und zum Ausstieg bereit machen. Sie denkt an ihre eigene schwierige Kindheit und fühlt sich dem Kitz auf vielerlei Weise verbunden, näher als ihren Mitmenschen. Ihre zarten Hoffnungen auf ein normales Leben zerbrachen, als ihre Familie seinerzeit von der sowjetischen Miliz abgeholt und fortgebracht wurde. Sie hat sie nie wiedergesehen (es gab allerdings, so hieß es später, einige Telefonate, es ging ihnen gut, sie haben sich nach Österreich abgesetzt, wo sie in einer Bäckerei arbeiten, schwere, aber gute Arbeit).

Sascha wuchs also in einem Heim auf, ein einsamer kleiner Junge, ohne Bindung. Ihr Leben war ein Kampf, und sie kämpft immer noch. Und ihr auch, alle, sogar ohne Grund, oder der Grund ist genetisch, denkt sie, während sie uns allen – den beiden schwarzen Frauen, dem japanischen Ehepaar, mir, dem Ölprinz mit seinen Ehefrauen und all dem Volk aus der Economy Class und darunter – zuschaut, wie wir erste Zugeständnisse an unsere neue Zukunft im Land der Gulags machen.

Das junge Rehkitz steht vor der geborstenen Iljuschin, Sascha in der Tür, die beiden starren sich an. Das Geweih des Bullen, des Vaters der kleinen Bambi, rutscht vom Cockpitfenster herab, eine blutige Spur hinterlassend – wie die Geschichte der Menschheit, denkt Sascha -, und fällt zu Boden. Die Pilotin, Natascha, schaut zu, sammelt dann ihr persönliches Hab und Gut aus dem im Cockpit befindlichen Sideboard, und macht sich dann ebenfalls auf den Weg nach draußen. Sie übernimmt die Führung, was Sascha, vom Herz-zu-Herz-Kontakt mit dem Tier für einen Moment weich geworden, klaglos akzeptiert.
„Hier gibt es nichts in der unmittelbaren Umgebung, nur Taiga, Tundra, Rotwild und Pilze. Von der Fluggesellschaft ist keine Hilfe zu erwarten, die Maschine war schon zu alt; wir alle flogen auf eigenes Risiko. Sie haben das beim Kauf des Tickets unterschrieben.“
„Ich habe nichts unterschrieben“, widerspreche ich der immer noch schönen Blondinen-Pilotin, die die 40 längst überschritten hat, „ich habe mein Ticket online bestellt.“
„Dann gilt die Vereinbarung nicht für Sie“, antwortet diese, „aber es wird dennoch niemand kommen und Sie holen.“

Ich stelle fest, dass es draußen ziemlich frisch ist. Die beiden afrikanischen Frauen sind schlanker als es zunächst schien, so dicht und mehrfach übereinander gelegt ist ihre bunte Kleidung, wie sich zeigt, als sie Stück für Stück ablegen, bis sie nur noch in Jeans und Unterhemd dastehen. Ihre Arme sind schlank und wirken dennoch muskulös, sie könnten Hämmer halten und schweres Werkzeug, auf Baumwollfeldern arbeiten und dabei den Blues erfinden. Offenbar machen sie sich bereit zu arbeiten, die Kälte macht ihnen nichts aus.

Inzwischen haben alle das zerstörte Flugzeug verlassen und schauen sich um. Ich bin überrascht wie viele Menschen hier sind. 600, vielleicht 700. Die Sitzreihen bei Aeroflot sind schon in der First Class sehr eng gestellt, beim Gedanken an die Class unter der Economy wird mir ganz anders. Tatsächlich gibt es auch einige Fluggäste der legendären Vierten Klasse, die klein und dunkel sind, sich aneinanderkauern und mit großen, unsicheren Augen umherschauen, als warteten sie auf Befehle.

Die Natur um uns ist wild und schön. Inzwischen hat ich mehr Rotwild zu uns gesellt und sucht nach seinen Verwandten. Eine Tante kümmert sich um das Bambi (Saschas Herz macht einen Sprung, sie ist wieder allein, wie ihr ganzes Leben lang, sie muss sich wieder auf Macht und Status konzentrieren, um nicht verrückt zu werden).

Zwei der Economy Class-Leute reißen Gras aus und bieten es der Herde an, diese aber schaut verwirrt und ein wenig verächtlich, sie müssen das alles erst einmal verstehen und könne nicht den alberne Fütter-mich-niedlich-Akt der Menschen mitspielen. Der Rumpf der Iljuschin sieht aus wie das Werk eines verrückten, aber visionären Künstlers: Muskulatur, Blut, Därme bedecken beinahe die gesamte Fläche, Geweihe und Knochen stecken in Flügeln und Seitenruder – ein Monument der Begegnung von Technik und Natur.

Der Mann der Pilotin – sie schaut ihn an als erwäge sie eine Trennung, wie Sascha aus den Augenwinkeln beobachtet – hat sich aus den Resten des Fahrwerks eine Liege gebaut, hingelegt, und starrt – eine Flasche Wodka in der linken, eine Zigarette in der rechten Hand – in den sibirischen Himmel, der dicht bewölkt ist. Der Mann ist soweit, hat erreicht wonach Tausende Weise streben, hat losgelassen, aufgegeben. So schnell, denkt die Pilotin, die ebenfalls Olga heißt, so schnell endet, was ein Leben dauern sollte. Sie denkt daran, wie Hans – der Pilot hat deutsche Vorfahren – und sie sich kennen gelernt haben, in Oslo.

Sie schaut zu mir herüber, wie auf der Suche nach einer neuen Liaison (oder bilde ich mir das ein?), besinnt sich dann aber, denn enorme Aufgaben liegen vor uns – einige von uns wollen überleben, irgendwann zurück nach Hause, zu ihren Lieben oder weiter nach Liebe suchen. Oder nach Status und Anerkennung. Manche möchten auch einfach nur schmerzfrei leben, oder nicht mehr das Gefühl haben, ständig etwas zu versäumen. Die meisten aber wollen nur ihr sinnloses Leben fortsetzen, fernsehen und sich gegenseitig zutexten. Der Wille zum Überleben, denke ich mir, steht in einem außerordentlich schrägen Verhältnis zum Leben um das es dabei geht.

Fatima, die jüngste und schönste der Frauen des Ölprinzen (jedenfalls von den dreien, die er dabei hatte), mit makelloser, goldener Haut und langem schwarzen Haar, in dem sich der aufgehende Mond so wunderbar spiegelt, dass sogar die berühmten Mare (die in Wirklichkeit, wie man heute weiß, gar nicht aus Wasser sind) und der Krater Copernicus mit bloßem Auge zu erkennen sind, hat sich an einen Apfelbaum gelehnt und blickt in die Tiefebene vor uns, sinnend und von einem anderen Leben träumend. Sie war mit drei Jahren von ihrer Mutter auf einem Flohmarkt in Kairo an einen zwölf Jahre alten Grundschüler aus dem Jemen verkauft worden, der sie dann bald – noch am selben Nachmittag – beim Murmelspiel gegen seinen vier Jahre jüngeren Cousin verloren hat. Nach dem Ende des Spiels hat dieser sie gegen eine Packung Kaugummis getauscht. Die neue Besitzerin war eine Lehrerin aus Schleswig-Holstein, eine sehr seltsame Person, 56 Jahre alt, auf dem rechten Auge blind und vom Wesen her eher fahrig, unausgeglichen und im Grunde ihres Wesens voller Hass. Frau Mildred Wallander war Teilnehmende an einer Pauschalreise gewesen, eine steife Bildungsbürgerin, der Vater Manfred katholischer Priester (ein Missbrauchsverdacht drängt sich bereits vor dem Bekanntwerden jeglicher Indizien auf), die Mutter Johanna unambitionierte Hausfrau, niemals zufrieden, nach nichts auf der Suche, mit 14 bereits Alkoholikerin, mit 16 schwanger, Abtreibung, mit 17 wieder schwanger (wahrscheinlich von Manfred, vielleicht aber auch von einem Messdiener, der sich an seinem Peiniger, dem späteren Ehemann Frau Wallanders, rächen wollte), mit 18 brachte sie dann Mildred zur Welt, zwei Tage vorher hatte sie Manfred geehelicht, aus Liebe und auch um seine Karriere nicht zu gefährden, beides. Manfred war 28 Jahre älter als Johanna und hatte gerade sein Studium beendet, als die Familie gegründet wurde, die allerdings nur drei Wochen Bestand hatte. Johanna brach aus, gab das Trinken auf und begann zu kiffen. Die kleine Mildred klammerte sich einige Jahre verzweifelt an ihre immer abwesendere Mutter (die tolle Reisen in innere Welten unternahm und dabei endlich etwas Frieden fand) und bekam schließlich einen irreversiblen Knacks, eine Persönlichkeitsstörung, wurde Borderlinerin. Sie verließ ihre Mutter mit fünf und lebte fortan bei einem Nachbarn, der Psychotherapeut war und mit dem sie das Bett teilte, allerdings nicht in anstößiger Weise: der Therapeut arbeitete nachts und schlief tagsüber, sie hingegen lag nur nachts im Bett, sodass die beiden sich niemals dort begegneten – hier lag nichts vor. Die Wohnung des Psychologen war sehr klein, acht Quadratmeter, er hatte kaum Geld, in Kiel gab es zu viele Psychotherapeuten, Arbeit war nicht zu finden, also arbeitete er nachts, in der Hoffnung auf ein noch nicht bedientes Marktsegment, die sich aber nicht erfüllte. Sein einziger Patient war ein Schichtarbeiter bei McDonalds, der einmal die Woche kam. Davon lebten er und Mildred.

Aber ich weiche ab, so ab wie man nur weichen kann.

Nur hier und nur heute, limitiert und reduziert

„Dieses Blog ist die schönste Botschaft des Kapitalismus. Dieser lässt sich hier live erleben wie sonst irgendwo – und einmalig entspannt, weil niemand sich über irgend etwas aufregen muss. Hier, und nur hier, wird mit offenen Karten gespielt.“

Ich überfliege meine Zeilen noch einmal und entscheide, in Moskau einen professionellen Texter zu engagieren. In den Vorstädten gibt es günstige Büros, man muss sie nur finden. Ohnehin kann man bei dem Lärm hier oben nicht arbeiten.

Die Maschine Richtung russische Hauptstadt scheint sich während des Fluges langsam zu entleeren. Wir waren gestern in Tokyo gestartet (oder Peking? – die Ereignisse verwirren mich, die Reise dauert schon zu lange, ich bin müde und verschwitzt, mein T-Shirt klebt an meinem Rücken). Macht mein Entwurf Sinn? Es ist 1991, viele Dinge sind absehbar, aber noch nicht vorhanden. Irgendwann, da bin ich sicher, werden wir vernetzt sein, alle werden allen zuhören, wir werden überwacht sein, und elektrisch verliebt.

Einige Meter hinter mir sitzt ein älteres japanisches Ehepaar, sie nur Haut und Knochen, er trägt die kantigen Gesichtszüge eines Samurai. In der Reihe vor mir schlafen zwei Schwarzafrikanerinnen, vielleicht aus Uganda oder dem Kongo, jedenfalls in bunten Kleidern (viel Stoff war nötig um diese zu nähen), mit offenen Mündern, die Köpfe aneinander gelegt, wie Schwestern oder Cousinen dritten Grades. Aus der Ferne klingen Kindergeschrei und das zornige Schnarchen entmachteter Eltern.

Eine rothaarige Stewardess serviert schwarzen Kaffee, und als sie mich vor die Wahl „Milk, sugarrr“ stellt, blinzelt der stämmige, ukrainische Flugbegleiter vom Ende des anderen Ganges böse zu uns herüber. Er scheint ausschließlich mich verantwortlich für die sich andeutende Nähe zwischen uns beiden – der Flugbegleiterin und dem Gast – zu machen, was falsch ist, ihm aber ermöglicht, sein Bild von der Sowjetschönheit, die sich gerade über mich beugt, zu bewahren und sich nicht der Einsicht stellen zu müssen, dass sie aufgrund ihres Berufs vielen Männern viele Dinge servieren muss und dies eventuell gerne tut. Jedenfalls lächelt sie mich viel zu lange an.

„Only milk, please“, antworte ich, mich räuspernd, und schiele zu meinem Konkurrenten, der auch Leiter der Cabin Crew ist, hinüber. Dieser schiebt seinen Wagen mürrisch vor sich hin und murmelt kyrillische Flüche. Als mir Olga – der Name steht auf ihrem Schild – den Kaffeeersatz eingießt, berühren sich unsere Wangen, und sie streift mich mit ihrer linken Brust. „Thank you“, flüstere ich, während im anderen Gang Anatolij – so nennt ihn sein Schild – eine Wut in sein slavisches Gesicht steigt, die man enorm nennen kann.

„Olga“, ruft er schließlich durch die Sitzreihen, gefolgt von einer ungehobelten ukrainischen Tirade. Schnellen Schrittes kommt er zu uns herüber, stößt dabei seinen Wagen gegen eine der Schwarzen, die aufschreckt und „What the?“ ruft, und greift Olga schließlich mit seinen gewaltigen Pranken – wie riesig sie sind wird mir erst jetzt klar – in die Haare. Brutal beugt er sie Richtung Kabinenboden, schimpfend und schnaufend wie ein ostsibirischer Schaufelbagger.

Sascha kommt daher, die breitschultrige Matrone, ein weiteres, sehr dienstaltes Mitglied der Besatzung, frühere Sowjetschwimmerin, noch früher ein Mann, daher der Name. Zufrieden beobachtet sie den Disput, dem, so antizipiert sie, eine Erhöhung ihres Status an Bord folgen könnte. Sogar die Pilotin und der Kopilot sind nicht mehr unerreichbar in der Hierarchie, denkt sie. Jene sind auch privat ein Paar, das stärkt sie ihren Status an Bord der Iljuschin Il-96-300, aber ebenso schwächt es sie, vielleicht in einer Weise, die sie im Rausch ihrer jungen Liebe noch gar nicht ahnen. Sascha hat ihnen aufgrund ihrer Reife sehr viel voraus. Und so jung ist ihre Liebe ja auch gar nicht mehr.

Anatolij schimpft weiter auf die arme Olga ein, die sich inzwischen wimmernd am Boden windet, als er plötzlich durch ein Rumpeln aus dem unteren Bereich des Flugzeugs unterbrochen wird. „Ignorrrrierrren!“, fordert ihn Sascha, auch Alexander genannt, auf – Alexandra konnte sie nicht durchsetzen, zu männlich wirkt ihr voller Bart, den sie sich abzunehmen weigert, sie will geliebt werden wie sie ist, das wollen sie alle. Bisher fühlte sie sich Olga, gegen deren Attribute – glatte Haut, straffe Brüste, volles Haar, eine junge Schönheit mit dem Gesicht eines Models – sie wenig entgegenzusetzen hatte, immer unterlegen, jetzt nicht mehr, jetzt kommt ihre Stunde, die Stunde des Siegers (der Siegerin, korrigiert sie sich innerlich selbst).

Das von unten kommende Rumpeln und Rascheln und Dröhnen wird lauter, sodass ich mich von dem eigentlichen Geschehen abwende und aus dem Fenster blickend nach möglichen Gründen für diese beunruhigenden Geräusche suche. Das Fensterglas ist notdürftig repariert mit Splittern aus altem Kirchenfenster, überhaupt ist die Maschine nicht neu und im engeren Sinne fluguntauglich, aber ich hatte keine Wahl (auch wenn ich mich nicht genau entsinne warum), ich musste sie nehmen (vielleicht war es der letzte Flug heraus aus Peking oder Tokyo, ja wahrscheinlich sogar, der letzte Flug bevor etwas Schreckliches passiert; vielleicht war es auch nur der billigste Flug, und die durch die schlechte Schirmung der Maschine dringende kosmische Strahlung hat mein Gedächtnis getrübt). Durch geborstene Elemente des Gesichts der Mutter Gottes sehe ich, dass wir Baumwipfel streifen – der Flieger konnte schon während des ganzen Fluges seine Höhe nicht recht halten -, so niedrig allerdings waren wir noch nie. Die Pilotin hat das Fahrwerk ausgefahren, sodass sie besser mitverfolgen kann, wie nah wir dem Boden sind. Die Tür zum Cockpit öffnet sich, heraus torkelt der Pilot, der Mann der Pilotin, er hat getrunken. Es wird einen Streit gegeben haben, denke ich mir, hoffentlich bringt das die Passagiere nicht in Gefahr. Sascha lächelt, ihre Zähne sind makellos und gut gepflegt (das sieht nach Zahnseide aus, oder Kukident), aber leider nicht weiblich.

Im hinteren Teil der Iljuschin – die beiden dunkelhäutigen Frauen, das japanische Ehepaar und ich sitzen vorne in der Business Class, wie ich feststelle – stecken die Kleinkinder einander mit ihrem Geschrei an, es entsteht ein wahrer Kindergarten, eine Kakophonie des Infantilen. Die letzte, noch nicht erwähnte Person, die vorne mit uns auf den teuersten Plätzen sitzt (und teuer heißt bei Aeroflot immer noch die Hälfte billiger als bei der Konkurrenz), ist ein saudischer Ölprinz – eigentlich reist er mit drei Frauen, die aber im hinteren Teil des Flugzeugs sitzen und ihm nur hin und wieder etwas bringen, ich kann nicht sehen was. In seiner linken Hand hält er eine Wasserpfeife. Die Solidarität, die aufgrund der Aggression des russischen Flugbegleiters zwischen den Passagieren entstanden ist  – eigentlich sind es zwei Solidaritäten, eine zwischen den Persönlichkeiten mit First Class-Tickets (wie ich dazu kam weiß ich nicht mehr) und eine zwischen dem einfachen Volk hinten in der Economy -, führt zu allerhand Gemurmel: wir bestätigen einander unsere Empörung.

Der Co-Pilot hat sich inzwischen ebenfalls nach hinten zurückgezogen, was die Kinder zum Verstummen brachte. Bei Aeroflot gibt es noch eine dritte Klasse unterhalb der Economy, und manche sagen es gäbe noch eine vierte, die aber nicht Teil der offiziellen Vorgänge ist. Vielleicht ist er dorthin.

Olgas Haar hat sich gelöst, was sie noch attraktiver macht, und Anatolij hat von ihr abgelassen, zum Leidwesen Saschas. Der Rumpeln wird lauter, die Maschine kann sich nicht mehr in der Luft halten. Die Pilotin tut ihr Bestes, die Japaner sind ängstlich, den Ölprinz kümmert es nicht, die Schwarzen schlafen weiter.

Olga sammelt sich und steht auf, richtet ihre Haarpracht, murmelt verwirrt oder pflichtbewusst „Will serrrve dinnerrr now“, als die Iljuschin plötzlich einen Satz macht und sich um 30 Grad nach links neigt. Die Flugbegleiterin taumelt und landet in meinen Armen, Sascha hingegen fällt auf Anatolij. Der ist sofort tot. Im ersten Moment scheint sie geschockt, vielleicht hatte sie ihn gemocht, gleich aber spiegelt sich in ihren Augen wieder der Wille zur Macht.

Wir durchfliegen einen Canyon, links und rechts aus den bunten Fenstern kann ich Felswände sehen, und Vögel, die unseren Abstieg interessiert, aber auch gleichgültig begleiten.