Das Hotel

Am nächsten Morgen erwache ich aus einem Schlaf, der reich an gewöhnlichen Träumen war. Von einem bedeutungslosen Alltag hat es mir geträumt, von Menschen, die den vorgezeichneten Bahnen ihrer Na- und Kultur in erbarmungswürdigster Weise folgten, als handelte es sich um Wahrheiten und nicht um die ausgebeulten Stiefel blaugepauster Lebensläufe, die Sonne und Erde sich bestimmt nicht erträumt hatten, als sie das Leben aus vier oder fünf Elementen schufen. Im Traum wollte ich es anders machen, mich nicht fügen, nicht meinem Weg folgen, nicht meine Identität finden, mich nicht selbst verwirklichen, ich wollte vielmehr jede Vorgabe ignorieren, auch wenn das Motiv dazu selbst eine war.

So erwache ich also, und trotz meines Kopfschmerzes, trotz all meiner Wunden – man hat mir diverse Verbände angelegt, ich hänge an einem Tropf, mein Haupthaar wurde abrasiert, ich bin an diversen Stellen genäht, mein linkes Bein ist gegipst, mein rechter Arm hängt nach oben, befestigt an einem Gestell aus Beton – bin ich glücklich, nicht mehr in jenem Traum zu sein. Ein Fieberthermometer steckt in meinem After, das spüre ich deutlich. Der Raum ist hell erleuchtet. Vor dem Fenster hängen Stalaktiten. An der Wand vor mir befindet sich ein Schrank, in der Ecke steht eine Sitzgruppe aus den 50er Jahren (die Sowjets haben in großem Stil alte westeuropäische Möbel gekauft, die bei uns niemand mehr haben wollte). Vom Zimmer geht ein sehr großes Bad mit Whirlpool und Dusche ab – ein ungewöhnlicher Luxus. Ich vermute, das hier sonst nur Menschen vom Kaliber eines Generalsekretärs oder eines Oberstleutnants wohnen, und frage mich, was mir die Ehre verschafft, hier eingemietet zu sein.

Während ich so über dies und jenes nachdenke – wie immer ohne jedes Ergebnis, im Gegenteil, es sind schließlich dieselben Gedanken, die sich ständig wiederholen, ich denke niemals etwas Neues -, öffnet sich plötzlich die Tür, und eine blonde Krankenschwester von kaum 26 Jahren tritt ein.
„Na, wie geht es uns denn?“ fragt sie in fehlerfreiem Deutsch, und ich, schon wieder munter, zeige ihr, wie schlagfertig ich sein kann:
„Also wie es Ihnen geht weiß ich nicht, aber ich fühle mich ausgezeichnet.“
Erst als sie enttäuscht dreinschaut merke ich, wie hübsch sie ist, wenn auch ihre Schneidezähne ein wenig weit auseinander stehen; Waterloo, schießt es mir durch den Kopf, Dancing Queen, Chiquita, Fernando, Gedanken, die ich nicht zuordnen kann. Ihre Enttäuschung beschämt mich, wie konnte ich nur solch einen dummen Witz machen, sie wollte Kontakt mit mir, vielleicht sollte sich etwas anbahnen, immerhin gibt es hier unten nur alte Männer und junge Frauen, und eine Frau wie diese wurde vielleicht ausgewählt und vorgeschickt, vielleicht hat sie sich aber auch um das Vorrecht bemüht, zu mir, dem jüngsten Mann in dieser ganzen Höhle, vorzudringen, eine Ehre, vielleicht war sie auch die beste ihrer Kolchose und hat einen Preis bekommen, und ich bin dieser Preis, und sie hat sich die ganze Nacht auf die Begegnung vorbereitet, nein, das kann nicht sein, dann hätte sie ebenfalls nicht so einen dummen Krankenschwesternspruch abgelassen, oder sie hat ihn gerade darum abgelassen, um normal zu wirken, mich zu testen, es war eine Prüfung, die ich ganz gewiss nicht bestanden habe. Ich fange an zu zittern, auf eine zweite Chance hoffend.

Hotel

Die Frau nickt.
„Soso. Dann schauen wir mal, nicht wahr?“ sagt sie.
„Ja, schauen wir mal“, antworte ich nicht viel gescheiter als gerade eben, aber wahrscheinlich spielt es ja schon längst keine Rolle mehr, hat vielleicht noch nie eine gespielt.

Die Schwester schlägt meine Zudecke auf, und ich stelle fest, dass mein ganzer Brustkorb und Teile meines Bauches bandagiert sind. Mein primäres Geschlechtsorgan hingegen liegt frei, und sie greift es – ihre Hand fühlt sich warm und weich an – und schiebt es zur Seite, und mit der anderen Hand schiebt sie meine Hoden hinterher und hält sie fest, und so wird die erste Hand wieder frei, und diese schiebt sie unter mein Gesäß und sucht nach dem Fieberthermometer, sucht und findet nicht, so tief steckt es anscheinend in mir, sofern sie nicht nur so tut, um mich länger berühren zu können; überall fasst sie mich an, bis hoch zum Rücken und wieder zurück zum Afterausgang, auch dort scheint es zunächst nicht auffindbar, weswegen sie ihren Zeigefinger und schließlich auch ihren Mittelfinger hineinbohrt, immer tiefer, und um besser hineinzukommen bewegt sie mein Glied hin und her, als wollte sie mein Innerstes zurecht rütteln, bis ihre Miene sich schließlich aufhellt, sie lacht, freut sich, sie hat es gefunden, was immer es ist – ich bin mir nicht mehr sicher, dass es sich um ein Fieberthermometer handelt -, und am Ende holt sie einen kleinen Gegenstand aus mir heraus, eine Kapsel, kotverschmiert, aber intakt, und sie hält sie mir vor das Gesicht und nickt triumphierend.

„Das trugen Sie die ganze Zeit in sich“, erklärt sie, „es handelt sich um eine Nachricht, in dieser Kapsel ist ein Mikrofilm mit wichtigen Informationen.“
Ich starre sie ohne Verständnis an.
„Man hat Sie als Bote benutzt. Das ist ein weiterer Grund warum Sie hier sind.“
„Ich bin hier, weil ich mit einem Flugzeug abgestürzt bin, und durch einen Gang nach unten habe ich dieses Höhlensystem entdeckt.“
Sie lacht. Ob ihr bewusst ist, dass sie immer noch mein Geschlechtssystem in ihrer Hand hält und es sogar ein wenig hin und her bewegt?
„Sie denken doch nicht wirklich, Sie dekadenter Westler, dass unsere Flugzeuge einfach so abstürzen? Das ist Sowjettechnologie. Nein – alles war von Anfang an geplant.“
„Und was enthält diese Kapsel?“ frage ich aus echter Neugier, aber auch um das Gespräch in die Länge zu ziehen – nicht um der sexuellen Erregung willen, nicht nur jedenfalls, sondern weil ich Zeit zum Nachdenken gewinnen muss (diesmal handelt es sich um produktives Nachdenken mit einem echten Ziel – vielleicht sollte man das andere Nachdenken ausschließlich „Grübeln“ nennen, um die beiden zu unterscheiden). Vielleicht sind die gespeicherten Informationen wichtig für den Weltfrieden.

Schlagartig fällt mir auf, dass ihre Worte noch andere Implikationen haben.
„Moment mal – Sie sagten ‚ein weiterer Grund‘! Was ist denn der eigentliche Grund für mein Hiersein?“
„Haben Sie das nicht erraten? Sehen Sie sich um… ich meine, denken Sie daran was sie hier unten alles gesehen haben.“
„Hm… Leuchtplankton, alte Männer, Experimente mit niedlichen Hunden, junge Frauen, Stalaktiten,…“
„Vergessen Sie mal das Leuchtplankton, die Experimente und die Stalaktiten. Was bleibt übrig?“
Und da wird es mir klar.
„Alte Männer und junge Frauen. Das haben die Parteigenossen ja geschickt eingefädelt.“
Woraufhin sie nickt.
„Ganz recht. Die alten Säcke haben die schönsten Frauen des Ostblocks versammelt, angeblich um den Sozialismus voranzubringen. Aber sie haben nicht einkalkuliert…“
„… dass sie ohne direktes Sonnenlicht zuerst zeugungsunfähig und schließlich impotent werden.“
Wieder nickt sie.
„Aber warum verlassen sie die Höhle dann nicht?“
„Das wiederum“, antwortet sie, „ist eine andere Geschichte. Sie können nicht. Keiner kennt den Weg. Und vielleicht wollen sie auch nicht, weil sie draußen niemand mehr ernst nehmen würde.“ Immer zärtlicher streichelt sie mein Glied, auf und ab, auf und ab. Ich brauche kein Medikament, um eine Erektion zu bekommen.
„Und die Frauen? Warum verschwinden die nicht?“
Sie schaut traurig zu Boden, dann abwesend auf ihre beschäftigte Hand, dann wieder zu Boden.
„Sie fürchten, das Sonnenlicht würde sie verbrennen. Das hat man ihnen beigebracht. Eine perfide Konditionierung, die sich nicht durchbrechen lässt.“
„Und Sie? Fürchten Sie das auch?“
Sie nickt.
„Ich weiß zwar, dass es Unsinn ist, glaube aber, dass es stimmt. Nein – unsere einzige Chance auf Glück ist, hier zu leben und Familien zu gründen. Die alten Männer werden bald sterben.“

Langsam beginne ich den ersten Grund meines Hierseins zu ahnen. Mit meinem gesunden Arm schiebe ich ihre Hand von mir Weg. Mein Glied erschlafft sehr schnell.
„Nein!“
„Nein?“
„Nein!“
„Dann gibt es nichts mehr zu sagen. Leb wohl…“
Mit Tränen in den Augen steht sie auf.
„Warte“, rufe ich, „wie wäre dein Name gewesen?“
„Wie ‚wäre mein Name gewesen‘? Was meinst du?“
Ich schlucke.
„Ich meine: wie ist dein Name?“
Das erheitert sie, und sie beginnt ein Spiel.
„Du musst ihn erraten.“
„Hm“, sage ich, „statistisch gesehen müsste es ‚Olga‘ sein.“
Sie klatscht in die Hände und lacht.
„Richtig! Gut geraten.“
Dann setzt sie sich wieder und fährt fort, meinen Penis zu streicheln. Ich lasse es einen Moment lang geschehen, bis die Erektion bei etwa 35% steht, dann schiebe ich ihre Hand wieder weg, etwas sanfter als beim ersten Mal. Als ich die erneute Enttäuschung in ihrem Gesicht sehe, blicke ich beschämt auf die Stalaktiten vor dem Fenster.

Olga 4 steht auf.
„Dann hat es keinen Sinn mehr“, sagt sie. „Du kannst gehen. Geh schnell, schnell.“
„Wie soll ich das machen?“ frage ich und verweise auf die Verbände, den Tropf und den Gips.
„Das ist dein Problem“, sagt sie dann erwartbar schroff und verlässt den Raum.