Der Fall

Olga, deren gutes Herz sich trotz all dem Chaos noch um ihre Passagiere sorgt, drückt mich in den Sessel, schließt im Taumel meinen Sicherheitsgurt, und zieht sich dann mit letzter Kraft auf meinen Schoß. Ich bin überrascht wie schwer sie ist. Ihr Gesäß in meinem Schoß fühlt sich gut an, auch wenn der billige russische Stoff etwas juckt. Wir verlassen den Canyon, die Sicht ist frei. Wir leben alle nur eine Lüge, denke ich, als die Maschine in der sibirischen Taiga auf einer Lichtung bruchlandet.

Die Flügel brechen ab, ebenso das Fahrwerk, der Rumpf schlittert einige hundert Meter über den Boden und wird schließlich von einer Baumschule abgebremst und dann von einer Horde Rotwild zum vollständigen Stillstand gebracht. Sascha öffnet die Tür und steht einem Bambi gegenüber, das sie mit großen Augen anschaut. Dessen Eltern und Großeltern sind über den Rumpf verschmiert. Sie taumelt, überlegt kurz, ob sie das Flugzeug verlassen und einfach wegmachen soll, schaut dann aber ins Innere der Maschine, wo sich die Passagiere sammeln und zum Ausstieg bereit machen. Sie denkt an ihre eigene schwierige Kindheit und fühlt sich dem Kitz auf vielerlei Weise verbunden, näher als ihren Mitmenschen. Ihre zarten Hoffnungen auf ein normales Leben zerbrachen, als ihre Familie seinerzeit von der sowjetischen Miliz abgeholt und fortgebracht wurde. Sie hat sie nie wiedergesehen (es gab allerdings, so hieß es später, einige Telefonate, es ging ihnen gut, sie haben sich nach Österreich abgesetzt, wo sie in einer Bäckerei arbeiten, schwere, aber gute Arbeit).

Sascha wuchs also in einem Heim auf, ein einsamer kleiner Junge, ohne Bindung. Ihr Leben war ein Kampf, und sie kämpft immer noch. Und ihr auch, alle, sogar ohne Grund, oder der Grund ist genetisch, denkt sie, während sie uns allen – den beiden schwarzen Frauen, dem japanischen Ehepaar, mir, dem Ölprinz mit seinen Ehefrauen und all dem Volk aus der Economy Class und darunter – zuschaut, wie wir erste Zugeständnisse an unsere neue Zukunft im Land der Gulags machen.

Das junge Rehkitz steht vor der geborstenen Iljuschin, Sascha in der Tür, die beiden starren sich an. Das Geweih des Bullen, des Vaters der kleinen Bambi, rutscht vom Cockpitfenster herab, eine blutige Spur hinterlassend – wie die Geschichte der Menschheit, denkt Sascha -, und fällt zu Boden. Die Pilotin, Natascha, schaut zu, sammelt dann ihr persönliches Hab und Gut aus dem im Cockpit befindlichen Sideboard, und macht sich dann ebenfalls auf den Weg nach draußen. Sie übernimmt die Führung, was Sascha, vom Herz-zu-Herz-Kontakt mit dem Tier für einen Moment weich geworden, klaglos akzeptiert.
„Hier gibt es nichts in der unmittelbaren Umgebung, nur Taiga, Tundra, Rotwild und Pilze. Von der Fluggesellschaft ist keine Hilfe zu erwarten, die Maschine war schon zu alt; wir alle flogen auf eigenes Risiko. Sie haben das beim Kauf des Tickets unterschrieben.“
„Ich habe nichts unterschrieben“, widerspreche ich der immer noch schönen Blondinen-Pilotin, die die 40 längst überschritten hat, „ich habe mein Ticket online bestellt.“
„Dann gilt die Vereinbarung nicht für Sie“, antwortet diese, „aber es wird dennoch niemand kommen und Sie holen.“

Ich stelle fest, dass es draußen ziemlich frisch ist. Die beiden afrikanischen Frauen sind schlanker als es zunächst schien, so dicht und mehrfach übereinander gelegt ist ihre bunte Kleidung, wie sich zeigt, als sie Stück für Stück ablegen, bis sie nur noch in Jeans und Unterhemd dastehen. Ihre Arme sind schlank und wirken dennoch muskulös, sie könnten Hämmer halten und schweres Werkzeug, auf Baumwollfeldern arbeiten und dabei den Blues erfinden. Offenbar machen sie sich bereit zu arbeiten, die Kälte macht ihnen nichts aus.

Inzwischen haben alle das zerstörte Flugzeug verlassen und schauen sich um. Ich bin überrascht wie viele Menschen hier sind. 600, vielleicht 700. Die Sitzreihen bei Aeroflot sind schon in der First Class sehr eng gestellt, beim Gedanken an die Class unter der Economy wird mir ganz anders. Tatsächlich gibt es auch einige Fluggäste der legendären Vierten Klasse, die klein und dunkel sind, sich aneinanderkauern und mit großen, unsicheren Augen umherschauen, als warteten sie auf Befehle.

Die Natur um uns ist wild und schön. Inzwischen hat ich mehr Rotwild zu uns gesellt und sucht nach seinen Verwandten. Eine Tante kümmert sich um das Bambi (Saschas Herz macht einen Sprung, sie ist wieder allein, wie ihr ganzes Leben lang, sie muss sich wieder auf Macht und Status konzentrieren, um nicht verrückt zu werden).

Zwei der Economy Class-Leute reißen Gras aus und bieten es der Herde an, diese aber schaut verwirrt und ein wenig verächtlich, sie müssen das alles erst einmal verstehen und könne nicht den alberne Fütter-mich-niedlich-Akt der Menschen mitspielen. Der Rumpf der Iljuschin sieht aus wie das Werk eines verrückten, aber visionären Künstlers: Muskulatur, Blut, Därme bedecken beinahe die gesamte Fläche, Geweihe und Knochen stecken in Flügeln und Seitenruder – ein Monument der Begegnung von Technik und Natur.

Der Mann der Pilotin – sie schaut ihn an als erwäge sie eine Trennung, wie Sascha aus den Augenwinkeln beobachtet – hat sich aus den Resten des Fahrwerks eine Liege gebaut, hingelegt, und starrt – eine Flasche Wodka in der linken, eine Zigarette in der rechten Hand – in den sibirischen Himmel, der dicht bewölkt ist. Der Mann ist soweit, hat erreicht wonach Tausende Weise streben, hat losgelassen, aufgegeben. So schnell, denkt die Pilotin, die ebenfalls Olga heißt, so schnell endet, was ein Leben dauern sollte. Sie denkt daran, wie Hans – der Pilot hat deutsche Vorfahren – und sie sich kennen gelernt haben, in Oslo.

Sie schaut zu mir herüber, wie auf der Suche nach einer neuen Liaison (oder bilde ich mir das ein?), besinnt sich dann aber, denn enorme Aufgaben liegen vor uns – einige von uns wollen überleben, irgendwann zurück nach Hause, zu ihren Lieben oder weiter nach Liebe suchen. Oder nach Status und Anerkennung. Manche möchten auch einfach nur schmerzfrei leben, oder nicht mehr das Gefühl haben, ständig etwas zu versäumen. Die meisten aber wollen nur ihr sinnloses Leben fortsetzen, fernsehen und sich gegenseitig zutexten. Der Wille zum Überleben, denke ich mir, steht in einem außerordentlich schrägen Verhältnis zum Leben um das es dabei geht.

Fatima, die jüngste und schönste der Frauen des Ölprinzen (jedenfalls von den dreien, die er dabei hatte), mit makelloser, goldener Haut und langem schwarzen Haar, in dem sich der aufgehende Mond so wunderbar spiegelt, dass sogar die berühmten Mare (die in Wirklichkeit, wie man heute weiß, gar nicht aus Wasser sind) und der Krater Copernicus mit bloßem Auge zu erkennen sind, hat sich an einen Apfelbaum gelehnt und blickt in die Tiefebene vor uns, sinnend und von einem anderen Leben träumend. Sie war mit drei Jahren von ihrer Mutter auf einem Flohmarkt in Kairo an einen zwölf Jahre alten Grundschüler aus dem Jemen verkauft worden, der sie dann bald – noch am selben Nachmittag – beim Murmelspiel gegen seinen vier Jahre jüngeren Cousin verloren hat. Nach dem Ende des Spiels hat dieser sie gegen eine Packung Kaugummis getauscht. Die neue Besitzerin war eine Lehrerin aus Schleswig-Holstein, eine sehr seltsame Person, 56 Jahre alt, auf dem rechten Auge blind und vom Wesen her eher fahrig, unausgeglichen und im Grunde ihres Wesens voller Hass. Frau Mildred Wallander war Teilnehmende an einer Pauschalreise gewesen, eine steife Bildungsbürgerin, der Vater Manfred katholischer Priester (ein Missbrauchsverdacht drängt sich bereits vor dem Bekanntwerden jeglicher Indizien auf), die Mutter Johanna unambitionierte Hausfrau, niemals zufrieden, nach nichts auf der Suche, mit 14 bereits Alkoholikerin, mit 16 schwanger, Abtreibung, mit 17 wieder schwanger (wahrscheinlich von Manfred, vielleicht aber auch von einem Messdiener, der sich an seinem Peiniger, dem späteren Ehemann Frau Wallanders, rächen wollte), mit 18 brachte sie dann Mildred zur Welt, zwei Tage vorher hatte sie Manfred geehelicht, aus Liebe und auch um seine Karriere nicht zu gefährden, beides. Manfred war 28 Jahre älter als Johanna und hatte gerade sein Studium beendet, als die Familie gegründet wurde, die allerdings nur drei Wochen Bestand hatte. Johanna brach aus, gab das Trinken auf und begann zu kiffen. Die kleine Mildred klammerte sich einige Jahre verzweifelt an ihre immer abwesendere Mutter (die tolle Reisen in innere Welten unternahm und dabei endlich etwas Frieden fand) und bekam schließlich einen irreversiblen Knacks, eine Persönlichkeitsstörung, wurde Borderlinerin. Sie verließ ihre Mutter mit fünf und lebte fortan bei einem Nachbarn, der Psychotherapeut war und mit dem sie das Bett teilte, allerdings nicht in anstößiger Weise: der Therapeut arbeitete nachts und schlief tagsüber, sie hingegen lag nur nachts im Bett, sodass die beiden sich niemals dort begegneten – hier lag nichts vor. Die Wohnung des Psychologen war sehr klein, acht Quadratmeter, er hatte kaum Geld, in Kiel gab es zu viele Psychotherapeuten, Arbeit war nicht zu finden, also arbeitete er nachts, in der Hoffnung auf ein noch nicht bedientes Marktsegment, die sich aber nicht erfüllte. Sein einziger Patient war ein Schichtarbeiter bei McDonalds, der einmal die Woche kam. Davon lebten er und Mildred.

Aber ich weiche ab, so ab wie man nur weichen kann.