Der Intelligenzdienst 2

Eine weitere Tür öffnet sich, die vorhin, da bin ich sicher, noch nicht da war. Zwei Androidinnen unbekannten Typs, aber vom Design her zumindest angelehnt an Sowjet-Schwimmerinnen, wenn auch auf Basis eines Templates mit asiatischen Gesichtszügen instantiiert, treten ein und auf mich zu. Eine jede packt mich auf einer Seite, und mühelos ziehen sich mich nach oben und tragen mich ins Dunkel.

Einige Zeit vergeht, vielleicht zwei oder drei Stunden, um meine Schultern beginnen zu schmerzen. Anders als sonst in meinen Abenteuern scheint es diesmal aufwärts zu gehen. Ich spüre eine leichte Vertikalität in der Bewegung. Auch wird es immer heller, und nun befinden wir uns in einem gleißenden Gang klinischer Provenienz. Schließlich erreichen wir unser Ziel – jedenfalls vermute ich das, als wir vor einer Panoramascheibe stehen bleiben, die einen Blick auf einen Zellentrakt ohne Boden, Decke oder hintere Wand zeigt. Millionen von gläsernen Kuben sind in einem scheinbar wirren, aber wahrscheinlich einer perfiden Ordnung folgenden Muster verteilt und ineinander verschachtelt. In jedem von ihnen befindet sich ein nackter Mensch. Gefangene wie ich, nur dass ich noch T-Shirt und Unterhose anhabe. Manche liegen einfach still auf dem Boden, andere laufen auf und ab wie ein Rilke’scher Panther.

„Gott hatte einen noch zweiten Sohn“, beginnt plötzlich die Androidin zu meiner Linken zu erläutern, „aber nur der erste ist bekannt.“
„Jesus“, blubbere ich wie ein Dummkopf.
„Genau“, antwortet die andere nun, die der ersten zwar nicht gleicht wie ein Zwilling, aber auch nicht anders genug aussieht, um keiner zu sein. Noch immer stehe ich unter dem Einfluss der Pheromone, der sich aber mittlerweile so weit abgeschwächt hat, dass ich nur die eine von beiden ungeheuer attraktiv finde, die andere aber schon nicht mehr. Die eine fährt fort:
„Schon lange bevor Jesus aus einer Liaison zwischen Maria und dem Heiligen Geist hervorging und der Welt die Frohe Botschaft brachte, …“, stoppt die eine, und die andere fährt nahtlos fort:
„… dass von nun an alles besser würde, wenn man bestimmten Bedingungen genüge, wie zum Beispiel seine Seele Jesus Christus zu übergeben, mitsamt aller Verantwortung für sich selbst, hatte Gott einen zweiten eingeborenen Sohn – der sich auch Der Erstgeborene nannte und nennt – zur Welt  gebracht (diesen hatte er einfacht erzeugt, ohne Umweg über Dritte), mit demselben Auftrag.“
An dieser Stelle führt die andere fort:
„Nämlich die Menschheit auf Spur zu bringen. Der Erstgeborene hatte, ähnlich wie später Jesus, seinen Job sehr ernst genommen, war aber ebenfalls grandios gescheitert. Als Gott ihn dann wieder zu sich nehmen sollte, weigerte er sich und sagte, er wolle es weiter versuchen.“
„Und das hier …“, übernimmt wieder die eine und weist auf den endlosen Raum hinter dem Fenster, “ … ist eines der Ergebnisse.“
„Wer sind die?“, frage ich.
„Ursünder“, antwortet die andere. „Wie auch du einer bist.“
„Moment mal“, erwidere ich, „inwiefern denn das?“
„Das werden wir schon noch herausfinden. Was du hier siehst sind Folterkammern.“
„Moment mal“, frage ich, „ihr wisst also noch gar nicht, ob ich schuldig bin?“
„Wir gehen davon aus“, sagt die eine, „letztlich sind alle schuldig.“
„Ursünde“, erklärt die andere.

Ich realisiere, dass mein Pheromonspiegel sinkt und ich wieder handlungsfähig werde. Heimlich analysiere ich diese vertrackte Situation. Warum gelange ich nur immer wieder in solche? Warum passieren manchen Menschen Dinge der einen und anderen Menschen Dinge der anderen Art, und warum scheint es so zu sein, dass diese Arten der Dinge bei der Geburt festgelegt werden und sich fortan, bis zum Ende des Lebens, nicht mehr ändern? Die Menschen bleiben, was sie einmal sind, und ihnen widerfährt, was ihnen einmal begonnen hat zu widerfahren.

Ich wünsche mir die Polizisten zurück. Besonders der ältere schien in Ordnung, ein feindlicher, aber vertrauter Teil meiner Welt. Aber sie sind nicht da.

Plötzlich sehe ich ihn! Er sitzt nackt in einer der Zellen und schaut traurig zu uns hoch. Und er kann nicht begreifen, dass auch er, der Staat, Polizei, Kirche und Geheimdienst ein Leben lang so treue Dienste geleistet hat, in die Riege der Verdammten, die Legion der Sünder, eingereiht wird wie jene, an deren Verfehlungen er glaubte wie ein ländlicher Bayer an Gott.

Ich höre ein Geräusch hinter mir. Inzwischen bin ich schon so weit, dass ich alle Ereignisse als Fluchtmöglichkeiten in Betracht ziehe. Aus einem Impuls heraus frage ich meine beiden Aufpasserinnen:
„Was ist das Verhältnis zwischen ‚Fluch‘ und ‚Flucht‘? Sind die beiden verwandt?“
Volltreffer! Die beiden blicken einander an und können nicht entscheiden, wer antwortet. Ich nutze den Moment der Verwirrung und drehe mich um, in Richtung der Geräuschsquelle.

Was ich sehe, überrascht mich nicht – allenfalls überrascht mich, dass es mich nicht überrascht (was ich aber schnell auf die letzten Reste Pheromone in meinem Blut schiebe).

Der junge Polizist wird von einem weiblichen nubischen Zwillingspaar (das nicht aussieht wie Androidinnen) hereingeführt und steht nun im selben klinischen Gang wie ich, dreißig Meter hinter mir. Er wirkt noch völlig benebelt.

Die Afrikanerinnen schauen traurig drein. Vermutlich sind auch sie nicht freiwillig hier. Vielleicht ist niemand freiwillig hier, und ein sinnloses System erhält sich aufrecht, eben weil es in einen Zustand geraten ist, in dem es stabil ist, in absoluter Abwesenheit einer bewussten Betrachtung.

„Hey“, rufe ich nach hinten, „auch hier?“

Der junge Polizist, der noch vor wenigen Stunden so ein kalter zynischer Vertreter dessen war, zu dem Recht und Gesetz geworden sind (angelegt war es in den beiden allerdings schon immer), ist nach wie vor benebelt. Die eine seiner beiden Nubierinnen schaut ihn beinahe zärtlich an. Wir haben eine Chance, erkenne ich. Wenn wir alle zusammenhalten, schaffen wir es – vielleicht.