Die Herrinen des Universums

Der Weg nach unten scheint endlos. Zu Beginn sind die Wände noch aus Papier, nach ungefähr 20 Metern dann aus Pappe, nach weiteren 20 schließlich aus Holz. Es riecht süßlich, wie nach Räucherstäbchen, aber nicht unangenehm. Auf beiden Seiten befinden sich weitere Türen mit ungeprüften Möglichkeiten, mich aber zieht es nach unten, wohin mich die 4.500 geschickt hat.

Nach vielleicht einer Stunde erreiche ich das Ende der Treppe. Eine schwere Eisentür steht angelehnt vor einem von Kerzenlicht erleuchteten Raum. Ich trete ein in eine Art Vorraum. 40 Meter entfernt befindet sich eine weitere Tür, die ebenfalls angelehnt ist. Ich überwinde die Distanz, was sich wegen der honigartigen, schwülen Luft etwas hinzieht. Mein Beine gehorchen mir nur zögerlich. Schließlich trete ich auch dort ein und stehe in einer Halle. Die felsigen Wände sind dunkel und feucht, an der Decke befindet sich ein Kronleuchter von bestimmt 10 Metern Durchmesser (vielleicht auch 20, denke ich und merke, dass ich jeden Maßstab verloren habe). Obwohl in ihm nur wenige Kerzen leuchten, ist der Raum recht hell. Eine weibliche Gestalt in einem schwarzen Judoanzug mit weißem Gürtel (eine Art Negativumsteht mit dem Rücken zu mir vor einem Altar und zündet eine neue Kerze mit einer alten an (irgendwo irgendwann habe ich diese Szene schon einmal erlebt). Sie stellt sich auf und wirft die alte Kerze noch brennend in einen mit Wasser gefüllten Eimer. Es zischt, und eine dichte Dampfwolke steigt empor, wie in einer Sauna. Ich nähere mich. Sie dreht sich um.

„Hallo“, sage ich.
„Hallo“, antwortet sie ironisch, mich durch eine Wiederholung meines debilen Grußes bloßstellend. Mindestens eine 12.000, denke ich, und gehe auf sie zu.
„Zieh dich aus“, befiehlt sie mir, und ich gehorche. Es ist nicht einfach, meine Hose und mein T-Shirt kleben an mir und lassen sich kaum abstreifen. Als ich in Unterhosen vor ihr stehe, sagt sie:
„Ganz ausziehen.“
„Warum? Ich…“
„Ganz ausziehen“, wiederholt sie in einer Weise, die mich widerstandslos gehorchen lässt.
„Komm her und setz dich“, sagt sie und deutet auf einen Liegestuhl, der neben dem Altar steht. Wieder gehorche ich.
„Wir haben euch alles gegeben“, fährt sie fort, „was euch ermöglicht hätte, eine schöne Welt zu gestalten.“ Dann dreht sie sich zu mir um, und obwohl sie den Androidinnen, die sich einige Hundert Meter über mir befinden, gleicht, empfinde ich sie lebendiger als jeden Menschen, dem ich bisher begegnet bin. Wie eine Unendlich-Tausend, denke ich.
„Aber ihr habt alles zerstört. Ihr habt den Dodo ausgerottet, jenen liebenswerten Vogel, der nur seiner Natur gefolgt ist. Und die Maoriori. Den Blauwal. Den Amazonas. Ihr habt die Liebe, die wir euch gaben, so tief in euren Herzen vergraben, dass sie faktisch inexistent ist.“
„Wer bist du?“
„Erkennst du mich nicht?“
Ich schüttele den Kopf. Obwohl…

Sie kommt zu mir herüber, beugt sich über mich, und ihr Blick versengt mich. Sie küsst mich, mein Herz rast, ich schwitze, keuche, meine Ohren pfeifen, ich sehe Blitze. Ihr Atem riecht nach Umeboshi, und plötzlich liebe ich auch diesen Geruch, es wird der schönste, klarste, reinste Geruch der Welt. Was für eine Willkür, alles. Nach diesem langen Kuss legt sie sich auf mich, kuschelt sich an. Der Stoff ihres Anzugs fühlt sich sanft und weich auf meiner Haut an. Gut und Böse wohnen Seite an Seite in ihrer Brust. ‚Gut‘ in der linken, ‚Böse‘ in der rechten.

„Wir haben das Universum mit Lust und Schmerz, Mut und Angst, Fülle und Leere ausgestattet, mit Schönheit und jeder Menge Ressourcen, Wasser, Luft, Kohle, Sonne, Öl, Mineralien, Atomen, Molekülen, Möglichkeiten. Was, Mensch, glaubst du ist das Gegenteil von Schönheit?“
„Ich weiß nicht. Hässlichkeit sicher nicht, wenn du so fragst…“
„Narr. Schönheit hat kein Gegenteil. Alles ist schön. Alles. Verstehst du? Das ist das Universum.“
Ihr Haar, das an meinem Kinn liegt, riecht leise nach Sandelholz, ihre Stimme klingt dunkelblau.
„Geht es noch weiter nach unten?“ frage ich plötzlich. Das lässt sie aufhorchen.
„Sind unter uns noch weitere von dir?“
„Bin ich dir nicht genug, Mensch?“
„Das ist es nicht. Ich bin nur neugierig.“
„Wenn du nicht einmal mich verstehst, wieso willst du dann noch tiefer?“ Guter Punkt, denke ich.
Sie fährt fort:
„Wir haben, jedenfalls vorläufig, nur dieses eine Universum. In ihm können wir machen was wir wollen. Wir haben uns selbst erschaffen, und wir haben auch euch erschaffen. Wir haben Energie gegeben, Raum, Liebe, und Qualia. Und anstatt euch vernünftig zu organisieren, habt ihr alles kaputt gemacht. Mit ein wenig Herz und Verstand hättet ihr ein Paradies bauen können. Und jetzt ist es so gut wie vorbei – noch ein paar Jahre Menschheit, dann sind so gut wie alle tot. Jedenfalls hier auf der Erde.“

„‚Hier auf der Erde?‘ Gibt es noch andere bewohnte Planeten?“
Wie als Antwort auf diese außerordentlich dumme, irrelevante Frage drückt sie sich noch fester an mich. Sie braucht etwas von mir, wird mir schlagartig bewusst, dieses mächtige Wesen hat uns nicht nur erschaffen, um uns etwas Gutes zu tun, nein, wir sollen auch etwas liefern. Produzieren. Wir haben einen Zweck jenseits von Liebe, wie Darmbakterien.

Ich lasse meine Hand unter ihren Anzug fahren, den Rücken entlang, der sich makellos anfühlt, aber auch muskulös.
„Ach, du“, sagt sie und möchte ausdrücken, dass sie großes Mitgefühl mit mir, stellvertretend für alle Menschen, hat, dass sie sich an mich schmiegt, weil sie mich liebt wie eine große, selbstlose Mutter. Aber ich durchschaue immer mehr. Netter Versuch, Schwester, denkt Hollywood in mir. Dennoch mag ich sie, sehr sogar. Aber was ist der Deal?

Ich wage mich noch etwas weiter vor, streichele sie am unteren Rücken, spiele an ihrem Po, wabbele ihn hin und her. Sie lässt es geschehen, spielt aber weiter die weise Frau, die über den Zustand der Menschheit verzweifelt ist und nicht anders kann, als diese zu lieben. Du bist kein Engel, denke ich, aber du bist auch kein Teufel. Du bist nicht Mensch und nicht Maschine, und du bist beides. Du fühlst dich gut und richtig an. Was bist du?

„Hey“, sage ich. Und sie sieht mich an. Ihre Augen sind wie Taifune, aber ich erkenne das stille Zentrum. Sie richtet sich ein wenig auf, wirft ihr langes schwarzes Haar nach hinten, und fährt mit den Fingern meine Schlüsselbeine hinauf und herab.
„Wir brauchen einander“, erkläre ich, „wie oben so unten. Wir sind euch nichts schuldig. Ihr habt genau so einen Murks gemacht wie wir.“ Sie weicht meinem Blick aus und nickt.
„Und dennoch“, erklärt sie, sich plötzlich distanzierend, sich durchschaut fühlend, wütend werdend, „kann ich dich wie einen Käfer vernichten.“
„Versuch es doch“, spotte ich, von einer seltsamen Sicherheit ergriffen (obgleich mir klar ist, dass auch dieses Sicherheitsgefühl, das mehr als ein Gefühl ist, von irgend etwas abstammt, das letztlich künstlich ist), „komm, leg los, kämpfe.“

Plötzlich steht sie neben mir und nimmt eine auf den ersten Blick pathetische Karatehaltung ein: die Arme angewinkelt, die Hände nach oben gerissen, ein Bein vor dem anderen. Ihr Mund drückt Aggression aus, die Lippen scharf zusammen gezogen, aber aus ihren Augen fließen Sturzbäche. Was mich nicht hindert, aufzuspringen und über sie herzufallen. Die Wucht reißt sie zu Boden. Sie weiß sich zu wehren. Mit der rechten Hand greift sie mein Glied, mit der linken drückt sie in mein rechtes Auge. Ich schreie auf. Dumm.

Ich bekomme ihren Haarschopf zu fassen und ziehe ihren Kopf nach hinten. Sie lässt mein Auge los – ich sehe bunte Flecken und allerhand mythologisches Getier – und versucht meinen Arm zu greifen. Das gelingt ihr nicht, denn ich bin so nass von Schweiß, dass ihr Griff keinen Halt findet und abgleitet. Das gibt mir einen Vorteil, und ich reiße das Oberteil ihres Anzugs ein Stück nach unten (wie ich es in Agententhrillern gesehen habe), sodass ihre Arme feststecken. Sie ist ebenfalls ganz ordentlich erhitzt, und ihr Schweiß mischt sich mit ihren Tränen und fließt zwischen ihren kleinen runden Brüsten – gut und böse -, die inzwischen nicht mehr bedeckt sind, Richtung Bauchnabel und tropft von dort zu Boden. Jeder auftreffende Tropfen erzeugt ein kleines Lichtschauspiel.

„Vergiss nie“, sage ich, „wer dich hier gerade besiegt, Schwester. Ist nicht persönlich.“ Aber was willst du eigentlich?

Sie zappelt wie ein Fisch, aber ich lasse nicht locker und schaffe es, sie zu Boden zu drücken und mich auf sie zu setzen. Mein Penis, leicht erigiert, was mir nicht gefällt, liegt an ihrem Kinn. Sie schnüffelt und verzieht das Gesicht, und wir müssen beide lachen.

„Ok, lassen wir es gut sein. Du bist eine gute Kämpferin.“
„Und du ein guter Kämpfer. Freunde?“
„Kumpels“, stimme ich zu, helfe ihr auf, und wir geben uns High-Five und lächeln uns an. Die ungeheure Tiefe ist nicht mehr in ihren Augen zu finden, stattdessen erkenne ich einen Witz und eine Leichtigkeit, die auf ihre Art noch fundamentaler sind.

Wir stehen eine Weile so, eins mit uns selbst und miteinander (so soll es letztlich sein), als wir plötzlich und unerwartet Stimmen hören. Mehrere Androiden oder Personen kommen die Treppe herunter. Die Tür wird aufgerissen, und Popo steht vor uns, neben ihm die diversen T-Modelle.
„Was ist hier los?“ fragt er wütend.
„Alles in Ordnung“, antworten meine Gegnerin-Freundin und ich wie aus einem Mund, was ihn aber nicht überzeugt, denn er bläst zum Angriff. Die meisten Schwestern – die beiden Nackten und die Angekleideten, folgen ihm, nur der Prototyp hat eigene Pläne. Die 4.500 läuft direkt auf mich zu, schneller als meine Augen folgen können, und reißt mich mit sich, während die anderen meine Gegnerin-Freundin angehen. Diese weiß sich geschickt zu verteidigen, sehe ich aus einiger Entfernung, denn ich bin schon wieder ganz schön weit weg. Irgendwie haben wir uns trotzdem alle lieb, ist mein letzter Gedanke, bevor mich die 4.500 in ein Loch wirft, in dem sich eine Rutsche befindet, auf der ich hinabgleite in eine neue, aber wiederum nicht allzu neue Welt.