Irina Praskowja, Mutter von Dr. Vladimir Igor und sechzehn weiteren Kindern, war im Alter von sechs Jahren als hochbegabt eingestuft worden und bereits mit zwölf Leiterin der Ostafrikasektion des KGB. Sie galt als zukünftige Sowjetschönheit, obwohl sie mit ihren Pickeln, Spange (aus dem Westen, ein Geschenk des MAD) und Sommersprossen trotz ihrer Unattraktivität eher nicht wie eine bolschewistische Autorität wirkte. Sie war ohne Eltern in einem Waisenhaus südlich von Moskau aufgewachsen. Es handelte sich um ein halb verfallenes, altes Gebäude, einen Plattenbau ohne Heizung, aber immerhin mit fließendem, wenn auch schlammigem Wasser. Die Leiterin, eine Matrone mit Bartansatz und tiefer Stimme namens Olga Pelageja Uljanow, war eine entfernte Verwandte von Wladimir Iljitsch Uljanow – Lenin. Sie hatte die Ideale der Oktoberrevolution dennoch – wie beinahe alle ihrer Zeitgenossen ebenfalls – frühzeitig verraten, weil sie die damals (und auch heute) sehr verbreiteten menschlichen Eigenschaften – Egoismus, Neid, der Wille zur Macht – nicht in der erforderlichen Kürze der Zeit ablegen konnte. Also bereicherte sie sich, indem sie Kinder in den Westen verkaufte, an kinderlose Paare und medizinische Forschungseinrichtungen.
Eines Tages erschien eine Delegation kanadischer Forscher in dem Waisenheim, auf der Suche nach Objekten mit bestimmten genetischen Merkmalen. Sie erwarben einige der Kleinkinder käuflich, aber als Dr. Smith, der Leiter der Gruppe, auf Irina Praskowja aufmerksam wurde, fragte er Olga Uljanow was diese denn koste. Olga war das besondere Interesse des Mannes nicht entgangen, und da sie in den letzten Jahren ein gewisses kaufmännisches Geschick entwickelt hatte, stufte sie Irina kurzerhand als extrem hochbegabt ein, was den Preis laut der aktuellen Liste verfünfundzwanzigfachte. Und Dr. Smith dazu brachte abzulehnen. Olga Pelageja biss sich auf die Unterlippe, konnte aber die Einstufung nicht mehr zurücknehmen, denn das wäre nicht nur gehen die Vorschrift gewesen, sondern hätte auch ihre Glaubwürdigkeit gemindert.
Als dann ein Jahr darauf Abgesandte des KGB ihre Nachwuchskader zusammenstellten, griffen sie auf die offiziellen Hochbegabtenlisten zurück und verteilten die zukünftigen Positionen nach dem vorgeschriebenen Schlüssel, der Begabungsstufe, Alter und Parteibuch miteinander entsprechend einer einfachen Formel verknüpfte. So erhielt Irina ihre Ausbildung (die meisten ihrer Kollegen waren muskulöse Männer mit kantigen, etwas dumpfen Gesichtern und kurzen blonden Haaren, die in ihrer Freizeit Schach spielten und Wodka tranken und sich ihr gegenüber stets vorbildlich benahmen) und schließlich ihre Stelle in der Geheimbasis in Nairobi. Sie hatte schießen, fechten, Judo, Karate und verschiedene Sprachen gelernt und war nach anfänglichen Schwierigkeiten bei ihren Untergebenen recht beliebt. Nachdem sie ihre zehn Jahre in Afrika gedient hatte, kehrte sie zweiundzwanzigjährig und mit vierunddreißig Orden und Auszeichnungen in ihre Heimat zurück. Als sie die Tupolew nach Moskau bestieg, war sie schwanger. Der Vater in spe war ein schwarzer russischer Doppelagent namens Babafemi Mtanguluzi Igor. Dessen einer Ururgroßvater war Russe und hatte seinen Namen weitergegeben. Babaferni war auch ein sehr talentierter Koch und betrieb neben seiner Spionagetätigkeit einen kleinen Imbiss am Stadtrand, weil die Bezahlung durch den KGB auch für kenianische Verhältnisse mehr als dürftig war. Kurz nach der Zeugung des Kindes wurde er von einer Schweizer Hotelkette angeworben, ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte. Er hatte halbherzig versucht, Irina zum Mitkommen nach Lausanne zu bewegen, war aber heimlich erleichtert, als sie ablehnte. Sie sollten sich nie wiedersehen.
Irina hatte nie eine normale Kindheit gehabt, und wie die Dinge so sind, hinterließ ihre Geschichte Spuren in ihrer ursprünglich so sensiblen Psyche. Sie hatte Sehnsucht nach einer Familie und vielen weiteren Kindern, gleichzeitig war sie aber zwanghaft und recht neurotisch geworden. Nie konnte sie sich wirklich für eine Sache entscheiden, ohne intensiv um die verlorenen Alternativen zu trauern. Hatte sie einen Freund, zog es sie sowohl zu anderen jungen Männern als auch zu älteren als auch zu Frauen hin. Hatte sie für Soljanka eingekauft, bekam sie Appetit auf Borschtsch oder Pelmeni, empfand sich gleichzeitig als zu dick und wollte fasten und erwog den Besuch eines Restaurants. Psychotherapeutische Betreuung gab es damals nicht in der Sowjetunion (man steckte die Verrückten ohne viel Federlesens in die Klinik und stellte sie ruhig), also ging Irina ihr Problem – immerhin hatte sie ihr Verhalten als eine Störung erkannt – systematisch an und nahm sich vor, vor jeder Handlung bewusst eine Entscheidung zu treffen und zu dieser dann zu stehen. Den zeitnah entstehenden Schmerz plante sie zu ignorieren (in ihrer Ausbildung hatte sie den Umgang mit Folter geübt, sodass sie gute Grundlagen mitbrachte für ihr Unterfangen), nur im Falle nicht mehr bewältigbarer Unrast würde sie abwechselnd masturbieren und meditieren. Und so führte sie fortan ihr Leben, nicht ohne Erfolg, wie man neidlos (oder eben voller Neid, wenn die Grenzen des eigenen Charakters keinen anderen Umgang zulassen) anerkennen muss.
Eines Tages entschied sich Irina zu heiraten und das nächste Kind in die Welt zu setzen. Zunächst überlegte sie sich den Namen, den ihr Zukünftiger haben sollte, kam aber schnell zu der Einsicht, dass „Igor“ optimal wäre, um ihr Leben in möglichst stabilen Bahnen zu halten und die Menge von Änderungen zu minimieren.
Und so ging sie ihren Weg…