Nach einem langen, tiefen, traumlosen Schlaf erwache ich von einem Geräusch, einem Kratzen zunächst, das erst zu einem Gurgeln und schließlich zu einem Stöhnen wird. Die Fische schlafen noch immer; nur einige der Quallen leuchten, es ist ziemlich dunkel. Bevor ich meinen Weg ins Erdinnere fortsetze (nach wie vor folge ich einem unwirklichen Instinkt, nach wie vor habe ich keine Vorstellung von meinem Ziel: Sex und Macht kommen darin vor, vielleicht auch Sinn und Selbstverwirklichung: und irgendwann will ich nach Hause, aber noch nicht), mache ich mir noch einen Kaffee (zufällig hatte ich eine Packung löslichen russischen Kaffeeersatz gefunden), dessen Qualität aber in krassem Gegensatz zu den während meines gestrigen Nacktmahls verzehrten Produkten steht. Das Stöhnen wird lauter, drängender. Es ist nicht sexuell und klingt auch nicht nach Gewalteinwirkung – es klingt eher falsch, wie der misslungene Versuch, eine Gefühlsintensität herzustellen: ich überlege kurz, ob es sich um eine therapeutische Selbsterfahrungsgruppe handeln könnte, wohl wissend, dass derlei 300 Meter unterhalb der sibirischen Tundra unwahrscheinlich ist.
Ich habe nichts gefunden, mit dem ich meine Nacktheit verbergen könnte, mit Ausnahme eines Papiers mit dem Aufdruck ??????: diesen allerdings verwende ich dazu, einige der Nahrungsmittel mitzunehmen, das erscheint mir wichtiger. Ich packe ein soviel ich tragen kann und mache mich auf den Weg.
Tatsächlich finde ich nach einem halbstündigen Fußmarsch erste Anzeichen einer unterirdischen Zivilisation: befestigte Wege, Gärten (in denen allerdings mangels Licht nicht viel wächst, auch wenn man offenbar versucht hat, mittels überall aufgestellter Aquarien, in denen Leuchtplankton gehalten wird, wenigstens eine minimale Photosynthese zu ermöglichen – aber wie viele ähnlich löbliche Versuche, die die Geschichte dieses Landes zeichnen, ist auch dieser gescheitert), Autowracks (Wolgas und Ladas). In der Ferne höre ich Stimmen. Denen ich folge.
Es geht bergab, und ich schätze, dass ich mich etwa 800 Meter unter der Erdoberfläche befinde, als ich einer Gruppe von Männern und Frauen in weißen Kitteln begegne, die mich freundlich, aber nicht sonderlich überrascht anlächeln und sehr beschäftigt wirken. Einige stehen um einen herabgefallenen Stalaktiten von wenigstens einem halben Kilometer Länge herum, der in fünf ungefähr gleichgroße Stücke gebrochen ist. Sie diskutieren über die wirren Muster, die das Stalaktiteninnere verzieren, als versuchten sie sie zu entziffern. Jetzt höre ich auch wieder das Stöhnen, von allen Seiten klingt es. Es scheint aus den kleinen Plattenbauten zu kommen, die überall in die Felsstrukturen eingelassen sind. Als ich genauer hinschaue, stelle ich fest, dass jeder der kleinen Hütten über ein schwach bläulich leuchtendes Aquarium mit Leuchtplanktron verfügt. Hin und wieder taucht eine Gestalt an einem Fenster auf, die aber immer gleich wieder verschwindet, als wollte sie nicht gesehen werden.
Etwas berührt mich an den Beinen, und als ich hinunterschaue, sehe ich einen kleinen Hund unbekannter Rasse, der lustig herumtanzt und dann niedlich zu mir heraufschaut. Ist er auf niedlich gemacht? frage ich mich und nicke. An mehreren Stellen schauen Schläuche aus seinem Fell heraus, ebenso aus seinem linken Nasenloch und seinem Afterausgang, die mit Blut gefüllt und mittels einer Klemme verschlossen sind. Etwas weiter entfernt sehe ich zwei über ähnliche Schläuche verbundene Pudel, die sich dadurch voneinander nicht weiter als einen halben Meter entfernen können und deren Bewegungen vollkommen synchron wirken, wie das Ergebnis einer unglaublichen Dressur.
Mir fällt auf, dass die Luft hier unten sehr süßlich ist und immer dichter wird. Ich beschließe, auf die den Stalaktiten untersuchende Gruppe zuzugehen, aber sie hat sich bereits in alle Richtungen – Winde gibt es hier nicht – zerstreut, und ich kann mich nicht entscheiden, wem ich nachgehen soll. Auch hier im Erdinneren bin ich noch so ambivalent wie in meinen Beziehungen und Berufswünschen. Aber sie strahlen auch gar nicht aus, dass ihnen das willkommen wäre, was mir entgegen kommt. Ich setze also meinen Weg nach unten fort.
Zwanzig Minuten später höre ich, wie aus einer Art Halle liebevolle Laute dringen. Neugierig pirsche ich mich heran und blicke durch ein Fenster ins Innere. Da sitzen ungefähr fünfzehn nackte junge Frauen auf Kissen, und jede von ihnen hält zärtlich einen Stalaktiten im Arm, den sie innig anschaut. Wäre nicht soviel Liebe im Raum, würde mich die Szene gruseln. Ich kann meine Augen von dem Schauspiel nicht abwenden, und so merke ich nicht, dass sich jemand von hinten an mich heranpirscht. Als jemand oder etwas mir auf die Schulter tippt, erschrecke ich.