Der Raum hat sich geändert. Es ist nicht Oxana, die in der Ecke sitzt und weint, sondern Ninotschka. Hinter all unserem Wahnsinn verbergen sich empfindliche Seelen, hinter all dem Theater alltäglicher und außergewöhnlicher Situationen vegetieren fühlende Wesen vollkommen unbekannter Natur dahin, die fortwährend von den Persönlichkeiten, in die sie scheinbar unschuldig eingebettet sind, gezerrt und gezogen werden, in Richtungen, die sie nicht verstehen, in Welten, die so irreal sind, so fremd, dass eine gesunde Verbindung eine nicht einmal theoretische Option ist. In seltenen Momenten – den eigentlich heiligen Punkten der Raumzeit – fallen die Personae, die Masken, und die empfindlichsten der empfindlichen, zarten, eigentlich fühlenden Etwasse, jene Anteile von uns, die zu Beginn des Universums auf jenes kalte, harte Ding getroffen ist, das man das Sein nennt, begegnen einander.
Ich flüchte mich in die Hoffnung, dass das Weltall voller Planeten ist und dass es nur unsere Erde ist, auf der der Lauf des Lebens aus dem Takt geraten ist, dass der Kosmos als solcher gesund ist, richtig ist, in intakten Bahnen verläuft, satt und voller Leben, ich entfliehe dem verzweifelten Gedanken, dass Gott und die Welt im Kern krank sind… und lande hier, in einer Kammer im Herzen einer unmöglichen Kathedrale.
„Ninotschka“, flüstere ich, und sie sieht auf, erkennt mich, ich erkenne sie, nicht als Mann und Frau, sondern als irritierte Zeugen, die in ihren Körpern und Psychen gefangen einander suchen und sich im tiefsten Grunde wundern, wie sie hierher geraten sind. Strukturen aus Macht, Gier, Lust, Hunger, Begehren, Angst: unbekannt. Fremd. Nicht wirklich. Allerhand Tricks versuchen wir, wir akzeptieren, wir fliehen nicht den Augenblick, egal wie er ist, wir nehmen das So-Sein an. Und werden jederzeit korrumpiert, überrumpelt von unseren übergestreiften Persönlichkeiten, in die wir geboren wurden, mit denen wir identifiziert sind, die wir aber niemals waren und niemals wirklich sein konnten. Und auch wenn 0,0001% der Menschheit wirklich dazu in der Lage sein sollten, sich zu erleuchten, mit sich und der Welt eins zu sein, im Reinen – was nützt es all den anderen, die nicht das Glück haben, aus einem verrückten Zufall heraus sowohl die Kraft als auch die Einsicht zu besitzen und am richtigen Punkt der Raumzeit gelandet zu sein, der eine solch wunderbare Begegnung zwischen Materie und Geist, zwischen Zeuge und Welt, zwischen Sein und Nicht-Sein hervorbringt?
„Wir können alle nichts dafür“, sagt sie, und ich nicke. Wir sind eins. Grundsätzlich und in diesem Moment der Zeit, die uns auseinander gerissen hat, an diesem Punkt der Raumes, der uns alle – und wir sind weder viele noch eins – trennt.
Ich schaue mich um und stelle fest, dass die Kammer, in der wir uns befinden, keinen Ausgang hat, es gibt keine Tür und kein Fenster. Es gibt nur das Bett, in dem ich liege, einen Stuhl, neben dem Ninotschka am Boden sitzt, einen Schrank mit bis dato unbekanntem Inhalt, eine Truhe, ein Fell am Boden.
„Komm zu mir ins Bett“, rufe ich der Frau zu, die meinen Kosmos teilt, und sie steht schnell auf und kuschelt sich neben mich, erleichtert, aber leider spüre ich in dieser Erleichterung, die ein Gefühl ist und damit ein Ding des Seins, schon wieder eine Trennung. Kann man denn nur so kurz rein bleiben? frage ich mich und ignoriere die Frage sofort, weil mein Körper reagiert und mich in die Wirren der Realität zieht. Ich beobachte, wie ich Ninotschka umarme, an mich drücke, ihre Brüste in meinen Händen spüre, mir dessen bewusst werde, dass sie unter ihrem weißen Gewand nichts weiter trägt, ich streife den Stoff nach oben, greife ihren nackten Po, reibe ihn warm, werde erregt – und bin schon wieder verloren. Wir versenken unsere Körper ineinander, reiten auf dem Strom uralter Genesis, begeben uns auf den von der Evolution gebahnten, ja erzwungenen Weg – und brechen ab, als sich schließlich unsere Augen finden und wir in wieder eine neue Welt erwachen.
„Wo sind wir?“ frage ich, und sie schüttelt den Kopf. „Lass uns von hier fortgehen“, sagt sie, und ich nicke, das in meiner Formulierung verborgene Klischee ignorierend.
Ninotschka steht auf, vollkommen unbekleidet. Ihre Haut ist weiß wie Schnee. Sie läuft im Raum umher auf der Suche nach einem Ausgang. Ich erhebe mich ebenfalls, beteilige mich an der Erkundung dieser unbekannten Geometrie. Hin und wieder knien wir nebeneinander auf dem Boden, sie nackt, ich angezogen wie ein mittelalterlicher Geistlicher, in einem groben, dunkelbraunen Leinengewand. Manchmal lauschen wir nach Geräuschen von draußen, unsicher ob es ein solches gibt. Es ist vollkommen still. Nur ganz, ganz selten hören wir das entfernte Zwitschern eines Vogels, noch viel seltener ein gedämpftes Wiehern oder den beinahe stummen Schrei eines alten Esels. Immerhin sind wir zu zweit, denke ich, hier und jetzt alleine zu sein wäre… und halte inne, denn ich weiß nicht was es wäre.
Schließlich findet Ninotschka unter einem Teppich eine Klappe im Boden. Anders als der Rest des Raumes handelt es sich um eine moderne Luke, ähnlich der eines U-Boots. Wir blicken uns an, und ich spüre ihren Atem auf meiner Wange. Dennoch ahne ich, dass unsere intensivste gemeinsame Zeit vorbei ist, dass ich sie nicht mehr erreichen werde, dass sich ihr wunderbarer und mein allenfalls mittelmäßiger Körper niemals vereinigen werden. Ich hatte meine Chance, aber ich habe sie wegen allerhand existenzieller Überlegungen nicht genutzt, mache ich mir klar, während ich fühle, wie Ninotschka immer weiter von mir weggleitet und dass kein noch so elegantes Wort, kein noch so eindeutiges Gefühl, kein Schmeicheln und kein Drängen sie zu mir zurückbringen werden.
Sie öffnet die Klappe.
Unter uns ist ein Gang, ein ausgebauter Tunnel. Sie steigt als erstes hinein, ich überlege kurz und folge dann. Zu gerne hätte ich gewusst was in dem Schrank ist, was die Truhe in sich birgt, was dies überhaupt für ein Raum ist. Aber die geringe, alberne Hoffnung, Ninotschka doch noch einmal nahe zu kommen, treibt mich hinter ihr her, in eine ungewisse, profane, aber immerhin nicht langweilige Zukunft.