Jasmin ist keine Blume

Ein kleines Dorf in Anatolien war ihre Heimat. Sie hatte vier Onkels und siebzehn Tanten und liebte trotz ihres tragischen Schicksals das Leben. Zwei der Onkels waren, als Yasmina noch ein Baby war und von abstrakten, namenlosen Dingen träumte, als Gastarbeiter nach Wuppertal gegangen, einer nach Augsburg, und einer nach Berlin. Alle vier waren sie Baggerfahrer, konnten mit ihrer Qualifikation in Deutschland aber nichts anfangen, zu unterschiedlich waren die Baggertypen, die die jeweiligen Nationen einsetzten, um ihre noch unterschiedlicheren Gebäude zu errichten. Damals – Ende der 50er Jahre – gab es keine EU, die EG war gerade aus der EWG geboren worden, und von den Normen, wie sie in späteren Jahrzehnten jeden Winkel der europäischen Identität durchdrangen, konnten die Türkinnen und Türken in Yasminas Dorf Tepeköy nur träumen.

Yasminas Eltern – Vater Cem und Mutter Yasmina (die ja auch so hieß) – waren einander als recht junge Menschen in einem Olivenhain begegnet, der dem Imam des Dorfes gehörte. Beide verstanden sich als Suchende, die mit der von ihnen als verknöchert empfundenen traditionellen dörflichen Struktur nichts anzufangen wussten und lieber sinnend und nachdenklich durch die trostlose Landschaft strichen.

Als sie also in dem Olivenhain lustwandelten, begab es sich, dass ihnen der Imam begegnete: er trug ein langes weißes Gewand. Der Imam sah die beiden und wusste um ihre beginnende Liebe, und er verurteilte sie nicht.

Jedenfalls nicht für ihre noch heimlich Liebe. Denn als er vor ihnen stand, sah er, dass Cem auf einer Olive kaute, und als er diesen fragte, woher diese stamme, ob er sie vielleicht im Dorf gekauft hatte oder ob sie ihm jemand geschenkt hatte, seine Mutter vielleicht oder eine nahe Verwandte, wusste Cem nichts zu antworten (er war nicht sehr gut mit Worten, immerhin aber auch nicht sehr schlecht, er bewegte sich im unteren Drittel der Türkei und im unteren Viertel weltweit).

Verschämt und nervös biss Cem auf der Olive herum, bis er sie schließlich mitsamt dem Kern verschluckte. Der Imam sprach aus was alle wussten:
„Du hast die Olive von einem der Bäume gepflückt. Von einem meiner Bäume. Du hast gestohlen, und du weißt was ich nun tun muss.“

Cem nickte, und Yasmina begann zu weinen. Im Dorf galt die Scharia, und so führte der Imam die beiden in sein nicht sehr bescheidenes Haus. Er besaß nicht nur diesen Olivenhain, sondern auch noch Olivenhaine in anderen Teilen der Türkei und sogar in Griechenland und dem Iran, und sein Oliven zählten zu den größten und besten der ganzen Welt. Sogar in den USA  – McCarthy hin oder her – kannte man die Oliven des Imams, jedenfalls in den besseren Motels. Der Imam besaß mehrere Autos, ein Bordell in Konstantinopel (das auch damals schon seit beinahe 30 Jahren Istanbul hieß, was der konservative Imam aber ignorierte), eine Cessna, zwanzig Kamele, vier Frauen, drei Hunde und zwölf Kaninchen (von denen er einmal pro Monat eins aß, aber sie vermehrten sich wie es ihre Art ist).

Sein Haus war eigentlich eine Villa mit beheiztem Pool, Sauna, Billardsalon und Galerie, nur Hifianlagen gab es nirgendwo; der Imam lehnte Musik ab, wegen seines Glaubens.
Er führte die beiden Liebenden in den Keller, der gleichzeitig als Speicher, Olivenölfabrik und Gefängnis diente und auch über Räume, in denen Prozesse stattfanden und – je nach Ausgang, aber der war immer gleich – die Strafe der Delinquenten unmittelbar vollstreckt werden konnte. Die Arbeiterinnen in der Fabrik – Bäuerinnen aus der Umgebung und Studentinnen aus Westeuropa, die in den Ferien hier jobbten – schauten zu, als die kleine Gruppe an den Gerichtssälen vorbei Richtung Hinrichtungskammer ging. Anders als vergleichbare Räume in anderen Kulturen war die Einrichtung geschmackvoll, mit echten Perserteppichen, großen Bodenkissen zum Fletzen, einem gefüllten Samowar mit Tee aus Darjeeling (Indien), einer Bar, einer Original-Sitzgruppe aus Kanada mit echtem Bärenfell, sowie einigen Kirchenstühlen, die als Auditorium dienten und auf eine Bühne hin ausgerichtet waren. Auf dieser standen verschiedene Gegenstände, die sämtlich mehr oder weniger demselben Zweck dienten: ein elektrischer Stuhl amerikanischer Bauart, ein Galgen aus Mesopotamien, eine antike Guillotine aus der französischen Revolution, einige Pistolen, Messer, Schwerter, ein Korb voller Giftspritzen und ein sehr großes Beil.

„Das Urteil ist gefällt“, sagte der Imam zu Cem, „hast du noch et was zu sagen?“
„Es gab keinen Prozess“, antwortete Cem, „und wo sind die Beweismittel?“ Er blickte Yasmina an, die eifrig nickte.
„Der Beweis ist, dass ihr mir hierher ohne Widerstand gefolgt seid. Wärt ihr unschuldig, hättet ihr das nicht getan. Einen Prozess braucht es also nicht.“
„Warum nicht?“ fragte Yasmina.
„Darum nicht!“ antwortete der Imam entnervt und machte Anstalten, zur Sache zu kommen.
„Auch ich habe eine Olive von einem der Bäume gegessen“, rief Yasmina plötzlich, woraufhin Cem sie von der Seite erschreckt ansah.
„Yasmina, nicht!“
Aber Yasmina ließ sich nicht beirren.
„Cem, ich liebe dich. Das weiß ich jetzt. Ohne dich will ich nicht leben. Lieber will ich mit dir sterben.“
Der Imam schüttelte den Kopf.
„Du lügst, Weib. Das weiß ich. Es fehlt genau eine Olive, nicht zwei. Ich kenne alle meine Bäume und ihren Bestand genau. Für diese Lüge sollst du sterben.“
„Was im Ergebnis dasselbe ist, als wenn ich eine Olive gestohlen hätte und die Wahrheit gesagt“, erklärte Yasmina, „wichtig ist mir nur, dass Cems und mein Schicksal dasselbe ist.“
„Oh, aber es ist nicht dasselbe“, antwortete der Imam, „die Strafe für Diebstahl ist nicht der Tod, sondern es wird lediglich die Hand abgehackt. Unsere Religion ist hier sehr human. Du aber musst sterben, leider. Ich kann nichts dagegen tun. Ich mag dich, weißt du. Ich kenne dich noch als kleines Mädchen, du warst ohne Tadel und sehr hübsch und niedlich.“
„Moment“, sagte Cem, „wo steht denn geschrieben, dass die Strafe für eine Lüge der Tod ist? Sicher nicht im Koran.“
„Nein, nicht direkt“, erklärte der Imam, „aber ich verfüge über einige sehr alte Werke, die den Koran in dieser Weise auslegen, und für diese habe ich viel Geld bezahlt, mehr als für Pool und Galerie zusammen. Ich glaube nicht, dass dort die Unwahrheit geschrieben steht, mehr als 30 der besten Gelehrten haben daran gearbeitet. Beinahe alle Exemplare sind verloren gegangen, nur diese sind erhalten, und nach ihnen lebe ich.“
„Steht dort auch geschrieben, dass der Imam eines armen Dorfes derartige Besitztümer aufhäufen darf?“ fragte Yasmina klug.
„Das alles steht dort geschrieben“, nickte der Imam, „nun denn. Wer möchte zuerst?“

Inzwischen war das Auditorium gut besucht. Die Arbeiterinnen in der Fabrik hatten ihre Arbeit beendet, geduscht, und saßen nun in Bademänteln, die Haare in Handtücher gewickelt, wie es in den 50er Jahre weltweit üblich war, auf den Kirchenstühlen. Sie schwatzten und lachten und waren ganz entspannt. Einige nahmen sich an der Bar etwas Zitronentee oder Raki mit Orangensaft (Campari gab es zu dieser Zeit in der Türkei noch nicht).

Cem und der Imam starrten einander an. Cem war hochgewachsen, kräftig, hatte muskulöse Arme, starke Beine, ein breites Kinn und ein mächtiges Kreuz. Der Imam war klein, gedrungen, hässlich, geduckt, seine Hände zitterten. Er verfügte ausschließlich über eine innere Macht, gegen die Cem endlich aufbegehrte. Sein Feuer begann zu glühen, er explodierte innerlich, wurde zu einer strahlenden Sonne.

Imam

Yasmina bewunderte ihn dafür, schmachtete sogar, und als dem Imam dämmerte, was geschehen würde, war es schon zu spät: Cem erschlug ihn mit der Schärfe des Schwertes und warf seinen Körper den Kaninchen zum Fraß vor, die sich darüber hermachten wie es gar nicht ihre Art ist. Natürlich, dachte Yasmina, sie rächen sich.

Die Zuschauerinnen beobachteten das Schauspiel, und während die meisten weiterhin kicherten und lachten wie alberne Gänse, begann Ludmilla – eine Studentin der Biologie aus Bochum – über alles nachzudenken, über die Kaninchen, die Bärenfelle und die seltsame Fähigkeit des Imams, die Raumzeit jeder einzelnen Olive seines Hains zu kennen, die Gefahr, die von Cem ausgehen musste, wenn er diesem drohte, seine Hand und das Leben seiner zukünftigen Frau zu nehmen, aber zu ignorieren. Wie nah ungeheure Fähigkeiten im selben Menschen neben unfassbarer Dummheit leben!  Und ihr gruselte, und sie machte dass sie nach Deutschland zurückkam und jobbte fortan für gar nicht viel weniger Geld in einer Schokoladenfabrik in der Nähe ihrer Uni. Dort durften sich die Arbeiterinnen soviel Schokolade nehmen wie sie wollten, und Ludmilla hatte nach zwei Wochen sechs Kilo zugenommen. Sie nahm diese nie wieder ab, wurde aber trotzdem glücklich, weil sie einen verständnisvollen Mann heiratete: einen Koch aus Frankreich, das sagt alles.

Cem und Yasmina hingegen verließen den Olivenhain und versteckten sich in einer Scheune, wo sie in dieser selben Nacht die kleine Yasmina zeugten. Sie wurden glücklich und hatten ihr ganzes restliches Leben nie einen einzigen Strei.

Der Olivenhain verfiel ohne die Leitung des Imams nach und nach immer mehr und wurde erst 55 Jahre später, als sich die Dinge geändert hatten und Cem und Yasmina alte Menschen waren, von einem niederländischen Investor gekauft und zum Hotel umgebaut. Die Bautruppen fanden im Keller allerhand seltsame Dinge, das Seltsamste aber waren die Knochen eines Menschen, die von kleinen Doppelzähnen abgenagt waren, die, so die Forensik, weder von Ratten noch von Hunden stammten.