Die Flucht 2

Am Boden des Trogs, an dessen tiefster Stelle, finde ich einen Abfluss, durch den der ganze Unrat hinausströmt. Er durchmisst ungefähr einen Meter, und nachdem ich das unbefestigt auf ihm liegende Gitter entfernt habe, schlüpfe ich hindurch und gelange in ein Röhrensystem. Eine der jungen Russinen ist mir auf den Fersen, aber ich ignoriere sie und lasse mich weiter hinabtreiben.

30 Sekunden später – meine Luft wird langsam knapp – werden wir von einer Strömung mitgerissen und fallen durch eine Öffnung in einen leeren, in ein schwaches Blau getränkten Raum. Ungefähr 15 Meter unter uns mache ich Wasser aus und bereite mich auf den Aufprall vor. Nachdem dieser erfolgt ist, tauche ich so schnell es geht ab, gerade rechtzeitig, denn meine Verfolgerin schlägt an derselben Stelle auf. Ich höre einen Knall und einen Schrei – offenbar hat sie einen Bauchklatscher gelandet.

Als ich auftauche, sehe ich, wie sie besinnungslos auf der Wasseroberfläche treibt, auf einer Schicht aus Blut und Soljanka. Offenbar hat sie sich verletzt.

Ich schaue mich um, kann aber keinerlei Ufer oder eine vergleichbare Einrichtung erkennen. Über uns mache ich nur den Abfluss aus, aus dem ständig neues Abwaschwasser nachläuft. In der Ferne sehe ich einige Stalaktiten. Das Wasser, in dem wir uns nun befinden, ist voller Plankton – daher die rudimentäre Raum rudimentäre Beleuchtung des Raums.

Plötzlich höre ich ein Geräusch, und gleich darauf sehe ich schemenhaft die Ursache: eine Flosse schaut aus dem Wasser heraus, 10 Meter entfernt, schnell näher kommend. Ein Hai! Er muss das Blut gerochen haben. Die Russin ist in großer Gefahr.

Ich gerate in Panik, suche nach scharfkantigen Essensresten, aus denen ich eine Waffe bauen kann, finde aber nichts. Der Hai hat uns beinahe erreicht, als aus dem Abfluss über uns ein Soldat in voller Montur fällt, genau auf ihn. Der Soldat ist sofort tot, der Hai bewusstlos. Auch wenn ich mich nicht sonderlich verantwortlich fühle für die nackte russische Abwascherin, kann ich sie nicht hier lassen. Ich weiß nicht, wer zuerst aufwachen wird – sie oder der Hai -, und ich will es nicht darauf ankommen lassen. Sicher wird der Hai zuerst den Soldaten verspeisen, oder aber sich gleich der aus seiner leckereren jungen Frau zuwenden. Außerdem gibt es vielleicht weitere Haie, die von dem Geschehen angelockt werden oder einfach von Natur aus neugierig sind.

Ich schwimme also mit ihr Huckepack in eine beliebige Richtung, in der Hoffnung, irgendwann Land zu erreichen. Wir hinterlassen eine deutlich sichtbare, gefährliche Spur: meine Begleitung hört nicht auf zu bluten.

Wie viel Zeit vergangen ist weiß ich nicht, aber nach einigen Stunden – ich bin schon völlig erschöpft – erreichen wir eine Art Insel. Es ist heller geworden – das Plankton im Wasser ist Legion und lässt die Umgebung in einem hellen, intensiven Blau erstrahlen. Andere Farben gibt es in dieser Welt nicht. Ich ziehe meine Begleiterin – die nun eine Gefangene ist – ans Ufer und setze mich neben sie. Es dauert nicht lange, und ich bin eingeschlafen.

Palmen

Irgendwann erwache ich und spüre, wie jemand meinen Bauch streichelt (es ist natürlich die Russin, denn sonst ist niemand hier, außer einem alten Mann, der offenbar schon viele Jahre hier lebt, sich aber nicht für uns interessiert, sondern den Mustern des Planktons folgt, als lägen dort die letzten Geheimnisse des Universums verborgen – wie recht er hat). Die Luft ist warm und feucht. Auf der Insel gibt es einen Hügel mit einer kleinen Quelle, aus der frisches Wasser fließt. Wir können also unseren Durst stillen, haben aber nichts zu essen.

Ich lasse mich noch ein wenig streicheln – wie zufällig berühren ihre Unterarme manchmal meinen Penis – und halte dann ihre Hand.
„Hör zu“, flüstere ich, obwohl der alte Mann wahrscheinlich nichts mehr hört, oder aber, nach vielen Jahre im Untergrund, der menschlichen Sprache nicht mehr mächtig ist, „wir müssen hier weg.“
Sie nickt. Ihre Gesichtszüge werden von verkrustetem Blut nachgezeichnet – das steht ihr eigentümlich gut, sie hat die passenden Züge dafür. Dennoch halte ich ihren Zustand für kritisch.
„Du musst in ein Krankenhaus.“
„Kranken…. Haus….“, echot sie verwirrt, „was ist das?“
„Das ist jetzt nicht so wichtig. Kannst du gehen?“
Sie nickt, knickt aber bei dem Versuch aufzustehen schnell wieder ein.
„Okay. Ich werde dich tragen. Vorher müssen wir aber nach dem Weg fragen.“
Ich gehe zu dem alten Mann, der inzwischen eine Decke mit Gütern vor sich ausgebreitet hat, hinüber und nicke zum Gruße. Er erwidert und preist seine Waren. Es handelt sich um alte Batterien, teilweise ausgelaufen, eine ukrainische Zeitung von 1959, die linke Hälfte einer Polaroidkamera, einige Schlümpfe mit Produktionsfehlern – die Hüte fehlen -, und eine Dose Spargel. Ausschließlich diese interessiert mich. Spargel selbst hat zwar keine Kalorien, er ist aber in Béchamelsauce eingelegt.
„Was kosten?“ frage ich, in der Hoffnung, dass Infinitive verständlicher sind als konjugierte Verben.
Er hebt vier Finger.
Ich zucke mit den Schultern.
„Vier?“
Er schüttelt den Kopf und hält seine Hand vor mein Gesicht. Ich sehe, dass er, wie eine Disney-Figur, nur vier Finger hat.
„Fünf?“
„Dollar“, stellt er klar und nickt. Ich vermute, dass nicht viele Kunden vorbeikommen.
Schlagartig wird mir klar, dass ich kein Geld bei mir habe.
„Kredit?“ frage ich. Er schüttelt den Kopf. Wir brauchen aber die verdammte Béchamelsauce zum Überleben. Wie kann ich ihm das klarmachen?
Da schleppt sich meine gefangene nackte Russin heran – einige ihrer Wunden haben sich wieder geöffnet – und beginnt, seinen Kopf zu massieren, dann seine Schultern und seinen Rücken. Er schnurrt wie eine Katze und schließt die Augen, während er sich der Berührung hingibt.
Die Russin versucht, mir mimisch etwas mitzuteilen. Ich soll die Dose greifen? Ich soll sie dem alten Mann, der so wenig hat, stehlen? Ich schüttele den Kopf. Es muss anders gehen.
Sie rollt mit den Augen, genervt ob meiner Moral, die doch so viele meines Volkes nicht teilen. Dann flüstert sie dem Mann etwas ins Ohr, das ich nicht verstehe, aber er nickt zustimmend. Was nun geschieht, möchte ich nicht beschreiben, aber im Austausch bekommen wir die Dose überreicht. Und er schenkt uns noch ein kleines Floß dazu.

Die Flucht

So liege ich da, in meinem alternden Körper, in Bandagen, Gips und am Tropf, allein in einem unterirdischen Hotelzimmer in der sibirischen Tundra, mit Stalaktiten vor dem Fenster. Die Gesamtsituation ist durchaus hoffnungslos; nicht so hoffnungslos vielleicht wie vor einem Jahr in Nairobi, oder vor zwei Jahren in Shanghai, aber doch hoffnungslos genug, denn nicht nur Gegenwart und Vergangenheit drücken auf die zersplitterten Fragmente meiner Seele, sondern auch die Zukunft, deren erdrückender Wiederholungscharakter Bilder einer Vorhölle, oder vielleicht auch gleich der Haupthölle, an die schlecht ausgeleuchtete prä-kommunistische Wand meines Hotelzimmers wirft.

In der Ecke des Zimmers steht ein US-amerikanischer Rollstuhl, eines jener hydraulischen Modelle, die auf dem freien Markt nicht erhältlich sind und niemals sein werden, sie sind Regierungsbeamten, Hollywood-Schauspielerinnen, Generälen und Milliardären vorbehalten. Ich reiße das Kabel, das mich mit dem Tropf verbindet, aus meiner Hand, wobei sich ein wenig Haut löst, ziehe meinen rechten Arm aus der Betonhalterung – er fühlt sich nicht gebrochen an, sicherlich hat man ihn geschient und bandagiert, um mich sexuell attraktiver zu machen -, versuche aufzustehen, es gelingt mir, wuchte mich auf den Rollstuhl, dessen Polster sich automatisch meinem Körper anpasst, überfliege die Kontrollen, finde den Start-Button, und dann fahre ich los. Um mein linkes Bein vom Gips zu befreien, rolle ich wiederholt vehement gegen die Wand, immer wieder, bis ich ein tiefes Loch hinein geschlagen habe; dem Gips aber hat es nichts gemacht. Dann gleite ich zur Tür, die verschlossen ist, hole Schwung, schalte auf volle Beschleunigung, Turbo voll aufgedreht, strecke mein Bein nach vorne (zum Glück ist auch der Fuß vollständig eingegipst), und zerfetze die Tür, deren billiges Furnier mit Holzmaserung aus Plaste und Pressspan keinen nennenswerten Widerstand leistet, fliege weiter in den Flur, die Treppe hinunter, in die Lobby, die voller Menschen ist,  endlich in eine Säule hinein, nehme noch wahr, dass in zweien der anliegenden Konferenzräumen viele Menschen – alte Männer in Militäruniformen und junge Frauen in Krankenschwesterkitteln – Versammlungen abhalten, bis mein Gips in tausend Stücke zerspringt, die teilweise mit großer Geschwindigkeit die Impulsenergie meines Aufpralls auf die Menschen meiner Umgebung verteilen.

Zwei alte Männer – der Vorsitzende einer Blockpartei, die nicht genannt werden darf, und ein Leutnant zur See a. D. – sind sofort tot, als medizinisches Material durch Augen und Hals in das Stammhirn des einen und das limbische System des anderen eindringt. Endlich kann ich wieder laufen – mein Bein ist in keiner Weise auch nur angebrochen, bzw. ist es angebrochen, aber nicht schwer, jedenfalls nicht für hiesige Verhältnisse, wo das Leben sehr viel härter ist als in unseren Breiten -, und ich nutze das Chaos, um mich unter der Menge in einem der Konferenzräume zu verstecken. Die meisten der Bandagen haben sich gelöst, ich trage nur noch die um den Oberkörper und bin ansonsten vollkommen nackt, allerdings von Kalk und Staub bedeckt, was einen gewissen Schutz bietet, wenn auch nur von den neugierigen Blicken verwirrter Koryphäen des Sozialismus und zwangsverpflichteter junger Frauen.

Ich rase also mit meinem Rollstuhl, dessen komplexe Steuerung ich immer besser beherrsche, bis ich schließlich eins mit ihm geworden bin, in den Konferenzraum hinein, in dem sich ungefähr 500 Personen befinden, halbwegs dem Geschehen auf der Bühne zugewandt. Dort zeigt man eine Kuhherde, vielleicht 12 Exemplare, also keine richtige Herde, eher eine Schule, wie sie Aufgaben löst, die für Nutztiere  ungewöhnlich sind. Addition, Subtraktion und – allerdings scheinen das nur der Leitbulle sowie eine etwas eitle Kuh zu beherrschen – einfache Prozentrechnung. Die Tiere stampfen ihre Ergebnisse in den Boden, und Muh scheint soviel zu bedeuten wie Unter Null, also negative Zahlen als Resultat von Subtraktionsoperationen, bei denen die zweite Zahl größer ist als die erste.

Barbusige Frauen in Häschenkostümen hüpfen um die Protagonisten herum, während ein georgischer Showmaster sein Bestes gibt, um dem desinteressierten Publikum – die Frauen denken eher an Flucht und die Männer an die Frauen – die jüngsten Errungenschaften sowjetischer Pädagogik als Beweis für eine glorreiche Zukunft zu verkaufen. Sie tun so – geschult von der Parteizentrale – als störte sie mein lautstarkes Hereinplatzen nicht. Zunächst fahre ich auf das Buffet zu – ich habe seit gestern nichts gegessen und auch kein Frühstück erhalten – und schaue was es so gibt. Ich entscheide mich für einen Planktoncocktail – ich erkenne ihn am Leuchten, nicht am Geschmack – und eine vegane Soljanka, die ich mit etwas Kwas hinunterspüle. Die ebenfalls barbusigen Frauen hinter der Theke schauen mich aus den Augenwinkeln an, lassen sich aber nichts anmerken, weil sie nicht sicher sein können, ob ich nicht zur Show gehöre. Ich nutze das aus und verschaffe mir Zutritt zur Küche, die sich hinter der Theke befindet, indem ich die Bediensteten einfach zur Seite winke, als hätte ich Befehlsgewalt, ganz selbstverständlich. Man folgt mir nicht.

Der Küchenraum ist riesig. Ich renne einen Gang lang, große Töpfe stehen zu beiden Seiten, ein kulinarisches Spalier. Die Köche – allesamt kommunistische Franzosen, wie es aussieht – nehmen mich nicht wahr, so konzentriert arbeiten sie an ihren Kreationen. Ich lasse es mir nicht nehmen, von der einen oder anderen Köstlichkeit zu probieren, und spare nicht mit anerkennendem Lob. Das nehmen die linken Bocuses gerne an – anscheinend geizen ihre Arbeitgeber damit, oder haben keinen Geschmack.

Überall stehen Herde, Kühlschränke, Geschirr, und Prototypen russischer Geschirrspüler – diese scheinen aber außer Betrieb, denn hinten an der Wand gibt es einen Trog so groß wie ein Handballfeld, voll mit Abwaschwasser und Schaum. Zumeist jüngere Frauen tummeln sich darin und reinigen Pfannen, Besteck, Teller und Tassen, die von den anderen Bediensteten hineingeworfen werden. Neben diesem Trog befindet sich eine große Wanne mit klarem Wasser, in dem die gereinigten Gegenstände abgespült und an eine Handtuchkohorte übergeben werden, die sie abtrocknet und in die jeweiligen Schränke einsortiert. In der Wanne sitzen zwei nackte Frauen in ihren Vierzigern. Sie sind so in ihre Arbeit vertieft, dass sie mein Starren nicht bemerken. Teller annehmen, abspülen, weiterreichen, Pfanne annehmen, abspülen, weiterreichen. Die eine hat große, etwas hängende Brüste, die hin und her schwingen, wenn sie große Küchenutensilien von Schaum befreit. Die Brüste der anderen sind fast nicht vorhanden, dafür stehen ihre Brustwarzen in den Raum hinein. Irgendwann ist das Wasser dreckig, dann nicken sie einander zu, stehen auf und lassen es ab, bis es mit einem letzten Schlürfgeräusch verschwunden ist. Dann duscht die eine die andere ab, sie befreien einander vom Schaum. Beide sind am ganzen Körper – mit Ausnahme des Haupthaars – rasiert, wahrscheinlich damit sich keine Essensreste fangen können und außerdem die Bildung von Bakterien erschwert wird. So gesäubert lassen sie frisches Wasser ein, und der Vorgang beginnt erneut. Ich fasse hinein und stelle fest, dass es ziemlich kalt ist. Plötzlich bemerken sie das, und die eine mit dem größeren Busen sagt:
„Das kalte Wasser ist gut für unsere Haut. Es ist – wohl wegen des Geschirrs und nicht wegen uns, aber immerhin – kalkreduziert, und die Kälte verhindert Faltenbildung. Wir sind nicht mehr die jüngsten, aber unsere Körper wirken wie die von denen da.“ Sie deutet Richtung Trog, in dem besagte jüngere Frauen – ebenfalls alle nackt, wie ich durch Schaum und Dreck zu erkennen glaube – ihrer niedrig qualifizierten Arbeit nachgehen.
„Hier, fühl mal.“ Und sie nimmt meine linke Hand und legt sie auf ihre Brust. Ich fühle ihre feste Brustwarze.
„Ich hingegen“, sagt plötzlich die andere, „bin nicht so überzeugt davon. Meine Brüste sind klein, und das kalte Wasser lässt sie weiter schrumpfen.“ Woraufhin sie meine rechte Hand greift und ebenfalls auf eine ihrer Brüste legt. Ich verstehe was sie meint.
„Komm, steig zu uns ins Wasser und spiel mit uns“, schlägt die erste vor, und die zweite nickt und lacht.
„Leider habe ich keine Zeit“, antworte ich, „ich bin auf der Flucht.“
„Ach was“, erwidert die zweite und verstärkt ihren Griff. Die erste tut es ihr gleich. Gemeinsam ziehen sie mich vom Rollstuhl herunter in die Wanne.
„Achtung, mein Verband“, rufe ich albern – ein wirklich sinnloser Einwand -, und schon sind sie dabei, ihn mir abzustreifen. Ich versuche sie davon abzuhalten, aber die erste erklärt:
„Deine Verletzungen sind längst geheilt. Hier unten gibt es Heilerde-Gase in der Luft, die weltweit einmalig sind. Sie sind übrigens auch der Grund, warum wir alle hier sind.“
Das überrascht mich.
„Ihr seid freiwillig hier?“ Beide nicken vehement.
„Wir hatten Tuberkulose und allerhand andere Krankheiten. Jetzt nicht mehr. Als Ausgleich leisten wir Küchendienste.“
„Nackt? Um die Obersten Sowjets zu erregen?“
„Nein“, schüttelt die erste den Kopf, „sondern weil es im Kommunismus nicht genügend Kleidung gibt, um sie ständig zu wechseln.“
Die beiden halten meine Hände immer fester auf ihre jeweiligen Brüste, bis es fast schmerzt.
„Ähm, ihr könnt mich jetzt loslassen“, empfehle ich.
„Könnten wir“, antwortet die zweite, „aber du bist auf der Flucht, oder?“ Und sie fahren fort, meinen Verband zu entfernen, bis auch ich vor ihnen stehe wie Gott mich geschaffen hat. Mein Glied hängt klein und schlaff herab, und die erste greift es und hält es als weitere Drohung fest.
„Wachen!“ ruft sie schließlich, und nun schauen die Frauen im primären Trog auf, und auch das andere Personal, insbesondere die Abtrocknerinnen, richten ihre Aufmerksamheit auf das Geschehen. Nur die Köche scheinen unbeeindruckt.

Ich versuche mich zu befreien, habe aber seltsamerweise keine Chance, so fest halten mich die beiden.
„Spekuliert ihr auf eine Belohnung? Ich zahle das Doppelte!“
„Wir spekulieren nicht wie ihr dekadenten Kapitalisten“, weist mich die erste zurecht, und ich denke  Oh no. Dann habe ich eine Idee.
Ich verstärke meinen Griff ebenfalls, so daß ich die große Brust der ersten und die große Brustwarze der zweiten quetschen kann, was weh tun sollte. Tut es auch, sagen mir die Gesichter der beiden. Ich drücke noch fester zu, und schließlich gelingt es mir, mich loszureißen und in den großen Trog zu springen. Während ich in das warme, beinahe heiße Wasser tauche, höre ich in der Entfernung aufgeregte Stimmen – Soldaten und Geheimdienstagenten, die mich wieder einfangen wollen.

In dem Abwaschwasserbecken schwimmen ungefähr 15 Frauen. Die meisten sind von Schaum bedeckt, und ich frage mich, wieso das Wasser nicht viel dreckiger ist und der Schaum nicht verschwunden angesichts der ungeheuren Mengen Geschirr, das hier gewaschen wird. Während meine Verfolger immer näher kommen, tauche ich wieder und wieder unter und suche den Boden des Trogs ab. Ich schwimme zwischen Beinen hindurch und höre ein Kichern wenn ich welche berühre. Ich öffne die Augen, obwohl das Spülmittel brennt. Dicke und dünne Körper bewegen sich um mich wie Fische. Auch in diesem Fall sind die meisten Vaginas rasiert, was ich zwischen Bananenschalen, Knochen, Apfelgriebschen und Teebeuteln gerade so erkennen kann.

Manche Frauen tauchen ebenfalls unter und tasten umher – wahrscheinlich wollen auch sie mich dingfest machen und den Behörden übergeben. Geschickt weiche ich aus. Nur einmal kann mich ein kräftiges Weib festhalten, und sofort stürzen sich alle auf mich, und ich bin umgeben von glitschiger Haut und fühle mich wie in einem Becken voller Aale. Ich greife um mich, fühle Brüste, große, kleine, mittlere, Pos, schlanke und dicke, Nasen, Münder, Vaginas, und kann mich schließlich befreien. Während ich tiefer hinunter und weiter weg tauche, höre ich, dass der Kampf sich fortsetzt, als habe man mein Verschwinden nicht bemerkt. Das mache ich mir zunutze, indem ich den Boden systematisch absuche, bis ich schließlich fündig werde.

Das Hotel

Am nächsten Morgen erwache ich aus einem Schlaf, der reich an gewöhnlichen Träumen war. Von einem bedeutungslosen Alltag hat es mir geträumt, von Menschen, die den vorgezeichneten Bahnen ihrer Na- und Kultur in erbarmungswürdigster Weise folgten, als handelte es sich um Wahrheiten und nicht um die ausgebeulten Stiefel blaugepauster Lebensläufe, die Sonne und Erde sich bestimmt nicht erträumt hatten, als sie das Leben aus vier oder fünf Elementen schufen. Im Traum wollte ich es anders machen, mich nicht fügen, nicht meinem Weg folgen, nicht meine Identität finden, mich nicht selbst verwirklichen, ich wollte vielmehr jede Vorgabe ignorieren, auch wenn das Motiv dazu selbst eine war.

So erwache ich also, und trotz meines Kopfschmerzes, trotz all meiner Wunden – man hat mir diverse Verbände angelegt, ich hänge an einem Tropf, mein Haupthaar wurde abrasiert, ich bin an diversen Stellen genäht, mein linkes Bein ist gegipst, mein rechter Arm hängt nach oben, befestigt an einem Gestell aus Beton – bin ich glücklich, nicht mehr in jenem Traum zu sein. Ein Fieberthermometer steckt in meinem After, das spüre ich deutlich. Der Raum ist hell erleuchtet. Vor dem Fenster hängen Stalaktiten. An der Wand vor mir befindet sich ein Schrank, in der Ecke steht eine Sitzgruppe aus den 50er Jahren (die Sowjets haben in großem Stil alte westeuropäische Möbel gekauft, die bei uns niemand mehr haben wollte). Vom Zimmer geht ein sehr großes Bad mit Whirlpool und Dusche ab – ein ungewöhnlicher Luxus. Ich vermute, das hier sonst nur Menschen vom Kaliber eines Generalsekretärs oder eines Oberstleutnants wohnen, und frage mich, was mir die Ehre verschafft, hier eingemietet zu sein.

Während ich so über dies und jenes nachdenke – wie immer ohne jedes Ergebnis, im Gegenteil, es sind schließlich dieselben Gedanken, die sich ständig wiederholen, ich denke niemals etwas Neues -, öffnet sich plötzlich die Tür, und eine blonde Krankenschwester von kaum 26 Jahren tritt ein.
„Na, wie geht es uns denn?“ fragt sie in fehlerfreiem Deutsch, und ich, schon wieder munter, zeige ihr, wie schlagfertig ich sein kann:
„Also wie es Ihnen geht weiß ich nicht, aber ich fühle mich ausgezeichnet.“
Erst als sie enttäuscht dreinschaut merke ich, wie hübsch sie ist, wenn auch ihre Schneidezähne ein wenig weit auseinander stehen; Waterloo, schießt es mir durch den Kopf, Dancing Queen, Chiquita, Fernando, Gedanken, die ich nicht zuordnen kann. Ihre Enttäuschung beschämt mich, wie konnte ich nur solch einen dummen Witz machen, sie wollte Kontakt mit mir, vielleicht sollte sich etwas anbahnen, immerhin gibt es hier unten nur alte Männer und junge Frauen, und eine Frau wie diese wurde vielleicht ausgewählt und vorgeschickt, vielleicht hat sie sich aber auch um das Vorrecht bemüht, zu mir, dem jüngsten Mann in dieser ganzen Höhle, vorzudringen, eine Ehre, vielleicht war sie auch die beste ihrer Kolchose und hat einen Preis bekommen, und ich bin dieser Preis, und sie hat sich die ganze Nacht auf die Begegnung vorbereitet, nein, das kann nicht sein, dann hätte sie ebenfalls nicht so einen dummen Krankenschwesternspruch abgelassen, oder sie hat ihn gerade darum abgelassen, um normal zu wirken, mich zu testen, es war eine Prüfung, die ich ganz gewiss nicht bestanden habe. Ich fange an zu zittern, auf eine zweite Chance hoffend.

Hotel

Die Frau nickt.
„Soso. Dann schauen wir mal, nicht wahr?“ sagt sie.
„Ja, schauen wir mal“, antworte ich nicht viel gescheiter als gerade eben, aber wahrscheinlich spielt es ja schon längst keine Rolle mehr, hat vielleicht noch nie eine gespielt.

Die Schwester schlägt meine Zudecke auf, und ich stelle fest, dass mein ganzer Brustkorb und Teile meines Bauches bandagiert sind. Mein primäres Geschlechtsorgan hingegen liegt frei, und sie greift es – ihre Hand fühlt sich warm und weich an – und schiebt es zur Seite, und mit der anderen Hand schiebt sie meine Hoden hinterher und hält sie fest, und so wird die erste Hand wieder frei, und diese schiebt sie unter mein Gesäß und sucht nach dem Fieberthermometer, sucht und findet nicht, so tief steckt es anscheinend in mir, sofern sie nicht nur so tut, um mich länger berühren zu können; überall fasst sie mich an, bis hoch zum Rücken und wieder zurück zum Afterausgang, auch dort scheint es zunächst nicht auffindbar, weswegen sie ihren Zeigefinger und schließlich auch ihren Mittelfinger hineinbohrt, immer tiefer, und um besser hineinzukommen bewegt sie mein Glied hin und her, als wollte sie mein Innerstes zurecht rütteln, bis ihre Miene sich schließlich aufhellt, sie lacht, freut sich, sie hat es gefunden, was immer es ist – ich bin mir nicht mehr sicher, dass es sich um ein Fieberthermometer handelt -, und am Ende holt sie einen kleinen Gegenstand aus mir heraus, eine Kapsel, kotverschmiert, aber intakt, und sie hält sie mir vor das Gesicht und nickt triumphierend.

„Das trugen Sie die ganze Zeit in sich“, erklärt sie, „es handelt sich um eine Nachricht, in dieser Kapsel ist ein Mikrofilm mit wichtigen Informationen.“
Ich starre sie ohne Verständnis an.
„Man hat Sie als Bote benutzt. Das ist ein weiterer Grund warum Sie hier sind.“
„Ich bin hier, weil ich mit einem Flugzeug abgestürzt bin, und durch einen Gang nach unten habe ich dieses Höhlensystem entdeckt.“
Sie lacht. Ob ihr bewusst ist, dass sie immer noch mein Geschlechtssystem in ihrer Hand hält und es sogar ein wenig hin und her bewegt?
„Sie denken doch nicht wirklich, Sie dekadenter Westler, dass unsere Flugzeuge einfach so abstürzen? Das ist Sowjettechnologie. Nein – alles war von Anfang an geplant.“
„Und was enthält diese Kapsel?“ frage ich aus echter Neugier, aber auch um das Gespräch in die Länge zu ziehen – nicht um der sexuellen Erregung willen, nicht nur jedenfalls, sondern weil ich Zeit zum Nachdenken gewinnen muss (diesmal handelt es sich um produktives Nachdenken mit einem echten Ziel – vielleicht sollte man das andere Nachdenken ausschließlich „Grübeln“ nennen, um die beiden zu unterscheiden). Vielleicht sind die gespeicherten Informationen wichtig für den Weltfrieden.

Schlagartig fällt mir auf, dass ihre Worte noch andere Implikationen haben.
„Moment mal – Sie sagten ‚ein weiterer Grund‘! Was ist denn der eigentliche Grund für mein Hiersein?“
„Haben Sie das nicht erraten? Sehen Sie sich um… ich meine, denken Sie daran was sie hier unten alles gesehen haben.“
„Hm… Leuchtplankton, alte Männer, Experimente mit niedlichen Hunden, junge Frauen, Stalaktiten,…“
„Vergessen Sie mal das Leuchtplankton, die Experimente und die Stalaktiten. Was bleibt übrig?“
Und da wird es mir klar.
„Alte Männer und junge Frauen. Das haben die Parteigenossen ja geschickt eingefädelt.“
Woraufhin sie nickt.
„Ganz recht. Die alten Säcke haben die schönsten Frauen des Ostblocks versammelt, angeblich um den Sozialismus voranzubringen. Aber sie haben nicht einkalkuliert…“
„… dass sie ohne direktes Sonnenlicht zuerst zeugungsunfähig und schließlich impotent werden.“
Wieder nickt sie.
„Aber warum verlassen sie die Höhle dann nicht?“
„Das wiederum“, antwortet sie, „ist eine andere Geschichte. Sie können nicht. Keiner kennt den Weg. Und vielleicht wollen sie auch nicht, weil sie draußen niemand mehr ernst nehmen würde.“ Immer zärtlicher streichelt sie mein Glied, auf und ab, auf und ab. Ich brauche kein Medikament, um eine Erektion zu bekommen.
„Und die Frauen? Warum verschwinden die nicht?“
Sie schaut traurig zu Boden, dann abwesend auf ihre beschäftigte Hand, dann wieder zu Boden.
„Sie fürchten, das Sonnenlicht würde sie verbrennen. Das hat man ihnen beigebracht. Eine perfide Konditionierung, die sich nicht durchbrechen lässt.“
„Und Sie? Fürchten Sie das auch?“
Sie nickt.
„Ich weiß zwar, dass es Unsinn ist, glaube aber, dass es stimmt. Nein – unsere einzige Chance auf Glück ist, hier zu leben und Familien zu gründen. Die alten Männer werden bald sterben.“

Langsam beginne ich den ersten Grund meines Hierseins zu ahnen. Mit meinem gesunden Arm schiebe ich ihre Hand von mir Weg. Mein Glied erschlafft sehr schnell.
„Nein!“
„Nein?“
„Nein!“
„Dann gibt es nichts mehr zu sagen. Leb wohl…“
Mit Tränen in den Augen steht sie auf.
„Warte“, rufe ich, „wie wäre dein Name gewesen?“
„Wie ‚wäre mein Name gewesen‘? Was meinst du?“
Ich schlucke.
„Ich meine: wie ist dein Name?“
Das erheitert sie, und sie beginnt ein Spiel.
„Du musst ihn erraten.“
„Hm“, sage ich, „statistisch gesehen müsste es ‚Olga‘ sein.“
Sie klatscht in die Hände und lacht.
„Richtig! Gut geraten.“
Dann setzt sie sich wieder und fährt fort, meinen Penis zu streicheln. Ich lasse es einen Moment lang geschehen, bis die Erektion bei etwa 35% steht, dann schiebe ich ihre Hand wieder weg, etwas sanfter als beim ersten Mal. Als ich die erneute Enttäuschung in ihrem Gesicht sehe, blicke ich beschämt auf die Stalaktiten vor dem Fenster.

Olga 4 steht auf.
„Dann hat es keinen Sinn mehr“, sagt sie. „Du kannst gehen. Geh schnell, schnell.“
„Wie soll ich das machen?“ frage ich und verweise auf die Verbände, den Tropf und den Gips.
„Das ist dein Problem“, sagt sie dann erwartbar schroff und verlässt den Raum.

Die versuchte Flucht

Nach dem Besuch der tadschikischen Teestube will man mich in das einzige Hotel des unterirdischen Ortes bringen. Es liegt in einer Art Schlucht, noch einmal zweihundert Meter tiefer. Man hat meine Hände auf dem Rücken gefesselt, mit einer Handschelle aus lettischer Produktion, die so verrostet ist, dass ich sie mit Muskelkraft sprengen könnte, würden nicht drei Bolschewiken mit entsicherten Kalaschnikows hinter mir herlaufen und dabei bedrohlich wirken.

Demütigend ist, dass Olga mich an meinem inzwischen wieder ganz kleinen Penis durch die unterirdischen Straßen zieht. Ein Triumphzug, wie er in Ländern dieser Art gerne abgehalten wird. Zu beiden Seiten stehen winkende Menschen mit Fähnchen in den Händen, auf denen Marx, Engels, Lenin und Stalin im Halbprofil abgebildet sind. Auf manchen Fahnen sind die vier Legenden ohne Bart abgebildet und wirken dadurch jünger.

Die Augen der Feiernden sprechen eine andere Sprache als ihre trainierten Gesichter. Beinahe erkenne ich eine Verbindung – oder setzt man Hoffnung in mich als den Befreier? Könnte ich nicht…?

Ich bleibe stehen. Olga nicht, und sie lässt nicht los, aber ich ignoriere den Schmerz. Schließlich bleiben wir alle stehen, und ich rufe in die Menge:
„Gebt mir Freiheit oder gebt mir Tod. Lasst uns kämpfen, für eine bessere Zukunft. Ihr seid viel mehr als die. Ihr könntet…“ Weiter komme ich nicht, weil mich Olga niederschlägt. Im Fallen sehe ich noch, dass ich keinen Eindruck auf die Meute gemacht habe. Bevor ich aufschlage, bin ich schon wieder ohnmächtig, und spüre nicht mehr, wie meine Wächter mit ihren Kalaschnikows auf mich einschlagen, bis ihnen Dr. Igor nach einiger Zeit Einhalt gebietet.

Der alte Mann

Ich drehe mich um und sehe einen alten, hageren Mann vor mir, der nicht unfreundlich wirkt, dessen Augen mir aber verraten, dass ich hier nicht unbedingt erwünscht bin.

„Was geht hier vor?“ frage ich und eröffne damit das Gespräch. Meine Nacktheit habe ich vollkommen vergessen.

Mein Gegenüber ist von der offensiven Frage überrascht und antwortet: „?????? ????! Sie sind Deutscher?“
„Ich bin Überlebender eines Flugzeugabsturzes und aus einem Kloster durch einen unterirdischen Gang hierher gelangt.“ Meine Antwort überrascht ihn nicht, und er erklärt:
„Viele Menschen kommen auf diese oder eine ähnliche Weise hierher. Diese Frauen hier stammen aus einem Zugunglück. Wir führen Experimente mit ihnen durch, die der Sowjetunion neue Erkenntnisse verschaffen sollen.“
Diese Offenheit lässt mich aufhorchen: würde man mich mit diesen den Staat doch sehr kompromittierenden Informationen einfach wieder meines Weges gehen lassen? Der ältere Mann scheint meine Gedanken zu erraten und versichert mir:
Auch wenn Sie einen Weg aus diesem unterirdischen Gelände finden – wer würde Ihnen glauben? Seit Jahren fluten KGB und CIA die Welt mit mehr oder weniger plausiblen Verschwörungstheorien, und wenn das ARPANET erst einmal ausgebaut ist, wird man sich gar nicht mehr davor retten können. Und alle echte Information ist bereits vernichtet.“

Vom ARPANET hatte ich gehört, und mir war auch schon der Gedanke gekommen, dass man damit große Dinge anstellen könnte, vielleicht Informationen schneller um den ganzen Erdball verbreiten, sich mit seinen Freunden verbinden, Eintrittskarten kaufen oder gar Bücher bestellen. Und nebenbei all die Plattformen, die dann entstehen würden, mit Werbung versehen. Offenbar hatten auch schon andere diesen Gedanken.

„Also gut, da haben Sie wohl recht. Dann lassen Sie uns einen Tee zusammen trinken und etwas plaudern.“

Wir gehen in eine tadschikische Teestube, die sich die sozialistischen Wissenschaftler eingerichtet haben und in der monolithische Ex-Schwimmerinnen etwas zu starken schwarzen Tee mit Leuchtplankton servieren. Das sieht hübsch aus, schmeckt aber nicht besonders gut. Weil es so warm ist, servieren einige der Bediensteten in Unterwäsche, und ich kann ihre Muskulatur bewundern. Was ihnen wiederum gefällt und sie veranlasst, ein wenig zu häufig vor mir herumzustolzieren. Eine von ihnen stellt sich schließlich vor mich hin, streift ihren BH ab und blickt erwartungsvoll zu mir herunter. Sie ist gut zwei Meter groß, ein kommunistischer Schrank. Als ich keine Erektion bekomme, streift sie auch noch ihre Unterhose herunter und steht vor mir wie sie das Sportmedizinkollektiv geschaffen hat. Der alte Mann, der sich inzwischen als der Wissenschaftler Dr. Igor vorgestellt hat, sieht sich das Schauspiel belustigt an.

„Sie wollen als Frauen wahrgenommen und begehrt werden“, erklärt er, „und Männer in ihrem Alter kommen nicht sehr oft vorbei. Die meisten hier unten sind ältere Männer oder junge Frauen. Und Hunde.“
Ich nicke verständnisvoll und überlege was zu tun ist. Die Kellnerin tut mir leid, aber sie entspricht nicht meinem Beuteschema. Es hilft auch nichts, dass sie nach meinem Preis greift und daran reibt. Ihre Hand fühlt sich rau an.
„Bitte lassen Sie das“, sage ich schließlich, „Sie tun mir weh.“
Woraufhin sie traurig von dannen zieht, nicht ohne Dr. Igor einen vielsagenden Blick zuzuwerfen, ein Klischee, das durch die Tatsache, dass es sich dabei um eine muskulöse nackte Ex-Schwimmerin von riesenhafter Statur handelt, die als Serviererin in einer Teestube unterhalb der sibirischen Tundra in einem sowjetrussischen Forschungsinstitut mit zweifelhafter Zielsetzung arbeitet, noch einmal deutlich verstärkt wird.

Wie sich gleich zeigt, hat dieser Blick es in sich. Dr. Igor denkt einen Moment nach, holt schließlich eine Ampulle aus einer der Taschen seines Kittels und träufelt einige Tropfen daraus in meinen Tee. Das Plankton wird dadurch veranlasst, in wilden Spiralen umherzuwirbeln, bevor es schließlich zum Tassenboden niedersinkt und aufhört zu leuchten.
„Hier, trinken Sie“, fordert er mich auf und weist, als ich den Kopf schüttele, hinter mich, wo ein übergroßer bärbeißiger Bolschewik seine entsicherte Pistole in Richtung meiner Tasse schwenkt. Also trinke ich – besser als den Tod finde ich das auf jeden Fall (auch wenn ich diesen eigentlich nicht kenne; viel anders als traumloses Schlafen kann er nicht sein; nicht wirklich schlimm also, wirklich nicht schlimm; nur schlimm, weil man ständig meint, dass es das noch nicht gewesen sein kann, dass um die nächste Ecke noch mehr und vor allem besseres Leben wartet).
Zunächst fühle ich nichts, dann aber winkt Dr. Igor die Bedienung, die noch immer nackt ist, als spielte es keine Rolle, weil ihr ganzes Leben ohnehin jeden Rahmen verloren hat, erneut heran, und ich beginne die Natur der Substanz, die er mir in den Tee getan hat, zu verstehen.

Olga, so wird sie mir vorgestellt – eine weitere Olga, innerlich nenne ich sie Olga 3 – wirkt auf mich schlagartig ungeheuer anziehend. Ich erigiere, was ich mit einer Serviette zu verdecken versuche. Das gelingt nicht lange, die Serviette – ein grobes, weißrussisches Modell ohne Saugkraft – wird emporgehoben und so zu einer Art Wimpel, eine weißen Fahne vielleicht, um Waffenstillstand bittend.

Olga sieht noch genauso aus wie zuvor, ihr Anblick macht mich jetzt aber verrückt vor Verlangen. Sie greift erneut nach meinem Penis greift, und ich wehre mich nicht mehr. Ihr gewaltiger Kiefer umschließt ihn schließlich und beginnt daran zu saugen, als Dr. Igor plötzlich „Leider…“ sagt, ich schon ahne worauf dieses Leider hinauslaufen wird, denn auf einmal ist der Zauber vorbei, und obwohl mein Körper noch vor Lust bebt, regt sich ein enormer Widerstand in mir, und ich schiebe Olga – höflich genug, wie ich hoffe, ich will ihre geschundene Seele nicht noch weiter schinden – fort (was angesichts ihrer Masse kein einfaches Unterfangen ist), „leider…“ fährt er fort „… ist die Substanz sehr instabil, die Wirkung mithin von kurzer Dauer. 30 Sekunden, vielleicht 40. Sobald wir einen Weg gefunden haben, diese permanent zu machen, werden sehr, sehr viele Ehen in unserem geliebten Vaterland sehr, sehr viel glücklicher sein. Verbitterte Arbeiter und Bauern werden ihre ausgemergelten alten Frauen wieder begehren wie am ersten Tag, oder wahrscheinlich noch weit mehr. Und diese… “ – er weist auf die Schwimmerinnen – „…diese armen Kreaturen werden dann nicht mehr einsam sein, sondern geliebt werden, und zwar heftiger als eure dürren Models im dekadenten Westen.“

Er erläutert die Wirkungsweise des Medikaments – es passt das innere Schönheitsideal der Versuchsperson, das ja auch nur ein vollkommen willkürliches Produkt aus biologischer Evolution und Kultur ist, auf der Ebene des Kleinhirns an, sodass der Abgleich des realen Objekts mit den persönlichen Vorlieben vollkommen anders abläuft als gewöhnlich, nämlich sehr viel offener. Dann schaut er mich erwartungsvoll an, mit Stolz in den Augen, den er nicht verhehlt. Am Ende sind wir alle wieder Menschen mit witzigen kleinen Egos, analysiere ich treffsicher.

Ich denke darüber nach, ob ich das Recht habe, diese Art von Experiment pervers zu finden, denn was sonst gibt jenen vielen einsamen Seelen eine realistische Hoffnung auf eine gelungene Kombination aus wahrer Liebe und gutem Sex? Das Universum in seiner Grundausstattung bestimmt nicht. Und hier haben geniale Wissenschaftler das Schön-Saufen perfektioniert. Dann fällt mir ein:
„Sicher haben Sie auch über mannigfaltige andere Anwendungen nachgedacht: die allgemeine Zufriedenheit in der Bevölkerung erhöhen, die Organe des obersten Sowjet aus der Tiefe der russischen Seele verehren lassen, die Bevölkerung eines anderen Landes verunsichern und gegen die Regierungen protestierten lassen… militärische und wirtschaftliche Zwecke aller Art.“
„Natürlich“, antwortet Dr. Igor, „selbstverständlich. Das ist der Plan. Aber sicher wissen Sie wie es um Pläne in unserem Land bestellt ist… nicht gut, nicht gut.“
Erleichtert nicke ich. Dennoch muss ich beizeiten die westlichen Geheimdienste davon unterrichten, sage ich mir, ahne aber schon, dass ich, sollte ich jemals wieder heimatliche Scholle betreten, davon absehen werde, weil das einfach zu kompliziert würde. Behördengänge, viele Fragen, Stempel, Bögen, Zettel – das ganze Programm. Gäbe es – ich denke wieder an das, was mit dem ARPANET vielleicht möglich ist – öffentliche Plattformen, auf denen ein jeder öffentlich Vorgänge dieser Art enthüllen kann, die dann von allem Menschen gelesen werden können, wären wir einen großen Schritt weiter.

„Und die jungen Frauen, die die Stalaktiten im Arm halten?“
„Das“, antwortet Dr. Igor und streichelt seinen Spitzbart, „ist ein Experiment, das Eltern nicht wahrhaben wollen.“ Und der Wissenschaftler erklärt, dass man jene unglaublich starke Bindung zwischen Mutter und Kind auf ein paar doch recht einfache Mechanismen zurückführen konnte.
„Vor allem muss natürlich mit Oxytocin hantiert werden. Im Kombination damit werden die Frauen auf Stalaktiten konditioniert. An vielen Stellen wird sehr tief ins System eingegriffen, aber das Ergebnis kann sich sehen lassen: die Liebe der jungen Mütter zu ihren Stalaktiten ist in jedem Punkt identisch zu der sogenannten natürlichen Liebe zu Babys. Keine Studie stellte einen Unterschied fest.“
Ich nicke und nehme mir dann doch vor, die Höhle zu sprengen, nachdem ich alle Gefangenen befreit und die Untersuchungsergebnisse vernichtet habe. Was ich, wie ich mich kenne nicht tun werde. Nicht, weil mich die Implikationen der Experimente überzeugen würden – das tun sie zwar, aber ich gestehe es mir nicht ein, zu fern ist das von allem was ich gelernt habe über den Menschen -, sondern weil Empörung zu jenen Emotionen gehört, die sich am schnellsten zu legen pflegen.

Das unterirdische Wissenschaftskombinat

Nach einem langen, tiefen, traumlosen Schlaf erwache ich von einem Geräusch, einem Kratzen zunächst, das erst zu einem Gurgeln und schließlich zu einem Stöhnen wird. Die Fische schlafen noch immer; nur einige der Quallen leuchten, es ist ziemlich dunkel. Bevor ich meinen Weg ins Erdinnere fortsetze (nach wie vor folge ich einem unwirklichen Instinkt, nach wie vor habe ich keine Vorstellung von meinem Ziel: Sex und Macht kommen darin vor, vielleicht auch Sinn und Selbstverwirklichung: und irgendwann will ich nach Hause, aber noch nicht), mache ich mir noch einen Kaffee (zufällig hatte ich eine Packung löslichen russischen Kaffeeersatz gefunden), dessen Qualität aber in krassem Gegensatz zu den während meines gestrigen Nacktmahls verzehrten Produkten steht. Das Stöhnen wird lauter, drängender. Es ist nicht sexuell und klingt auch nicht nach Gewalteinwirkung – es klingt eher falsch, wie der misslungene Versuch, eine Gefühlsintensität herzustellen: ich überlege kurz, ob es sich um eine therapeutische Selbsterfahrungsgruppe handeln könnte, wohl wissend, dass derlei 300 Meter unterhalb der sibirischen Tundra unwahrscheinlich ist.

Ich habe nichts gefunden, mit dem ich meine Nacktheit verbergen könnte, mit Ausnahme eines Papiers mit dem Aufdruck ??????: diesen allerdings verwende ich dazu, einige der Nahrungsmittel mitzunehmen, das erscheint mir wichtiger. Ich packe ein soviel ich tragen kann und mache mich auf den Weg.

Tatsächlich finde ich nach einem halbstündigen Fußmarsch erste Anzeichen einer unterirdischen Zivilisation: befestigte Wege, Gärten (in denen allerdings mangels Licht nicht viel wächst, auch wenn man offenbar versucht hat, mittels überall aufgestellter Aquarien, in denen Leuchtplankton gehalten wird, wenigstens eine minimale Photosynthese zu ermöglichen – aber wie viele ähnlich löbliche Versuche, die die Geschichte dieses Landes zeichnen, ist auch dieser gescheitert), Autowracks (Wolgas und Ladas). In der Ferne höre ich Stimmen. Denen ich folge.

Es geht bergab, und ich schätze, dass ich mich etwa 800 Meter unter der Erdoberfläche befinde, als ich einer Gruppe von Männern und Frauen in weißen Kitteln begegne, die mich freundlich, aber nicht sonderlich überrascht anlächeln und sehr beschäftigt wirken. Einige stehen um einen herabgefallenen Stalaktiten von wenigstens einem halben Kilometer Länge herum, der in fünf ungefähr gleichgroße Stücke gebrochen ist. Sie diskutieren über die wirren Muster, die das Stalaktiteninnere verzieren, als versuchten sie sie zu entziffern. Jetzt höre ich auch wieder das Stöhnen, von allen Seiten klingt es. Es scheint aus den kleinen Plattenbauten zu kommen, die überall in die Felsstrukturen eingelassen sind. Als ich genauer hinschaue, stelle ich fest, dass jeder der kleinen Hütten über ein schwach bläulich leuchtendes Aquarium mit Leuchtplanktron verfügt. Hin und wieder taucht eine Gestalt an einem Fenster auf, die aber immer gleich wieder verschwindet, als wollte sie nicht gesehen werden.

Etwas berührt mich an den Beinen, und als ich hinunterschaue, sehe ich einen kleinen Hund unbekannter Rasse, der lustig herumtanzt und dann niedlich zu mir heraufschaut. Ist er auf niedlich gemacht? frage ich mich und nicke. An mehreren Stellen schauen Schläuche aus seinem Fell heraus, ebenso aus seinem linken Nasenloch und seinem Afterausgang, die mit Blut gefüllt und mittels einer Klemme verschlossen sind. Etwas weiter entfernt sehe ich zwei über ähnliche Schläuche verbundene Pudel, die sich dadurch voneinander nicht weiter als einen halben Meter entfernen können und deren Bewegungen vollkommen synchron wirken, wie das Ergebnis einer unglaublichen Dressur.

Mir fällt auf, dass die Luft hier unten sehr süßlich ist und immer dichter wird. Ich beschließe, auf die den Stalaktiten untersuchende Gruppe zuzugehen, aber sie hat sich bereits in alle Richtungen – Winde gibt es hier nicht – zerstreut, und ich kann mich nicht entscheiden, wem ich nachgehen soll. Auch hier im Erdinneren bin ich noch so ambivalent wie in meinen Beziehungen und Berufswünschen. Aber sie strahlen auch gar nicht aus, dass ihnen das willkommen wäre, was mir entgegen kommt. Ich setze also meinen Weg nach unten fort.

Zwanzig Minuten später höre ich, wie aus einer Art Halle liebevolle Laute dringen. Neugierig pirsche ich mich heran und blicke durch ein Fenster ins Innere. Da sitzen ungefähr fünfzehn nackte junge Frauen auf Kissen, und jede von ihnen hält zärtlich einen Stalaktiten im Arm, den sie innig anschaut. Wäre nicht soviel Liebe im Raum, würde mich die Szene gruseln. Ich kann meine Augen von dem Schauspiel nicht abwenden, und so merke ich nicht, dass sich jemand von hinten an mich heranpirscht. Als jemand oder etwas mir auf die Schulter tippt, erschrecke ich.

 

Das Nacktmahl

Ich bin ungefähr vier Stunden durch dieses tropfsteinhöhlenartige Gebilde gelaufen, als es wieder wärmer wird und mein Penis entsprechend größer. Man könnte ein Thermometer daraus bauen, denke ich, und gleich wird mir klar, dass ich hungrig bin und mein Gehirn wohl nicht mehr richtig funktioniert.

Der Gang hat viele Verzweigungen, die allesamt interessant wirken und die ich gerne erforschen würde. Ich verschiebe das auf später, vergesse mein Vorhaben aber immer sofort wieder, weil sich ständig neue Möglichkeiten bilden. Seltsam, denke ich, wie stark die Möglichkeitendichte über die Zeit schwankt – und manchmal hat man gar keine.

Es gibt aufregende Felsformationen: ich laufe durch riesige Hallen, schwimme durch warme Pools mit allerhand phosphoreszierenden Fischen und Quallen, die mich von unten anleuchten und die die ferne Höhlendecke, von der teilweise über 200 Meter lange Stalaktiten (aber auch solche, die nur einen Meter oder weniger messen) herabhängen, in ein unwirkliches Licht tauchen. Ich trinke eiskaltes, blaues Gebirgswasser aus sprudelnden Quellen, besuche geologisch-physikalische Dampfsaunen und Whirlpools – ein natürliches Wellness-Paradies. In einer Kavität finde ich schließlich eine Kiste mit russischen Erzeugnissen: Krim-Sekt (den ich sofort im aus einer der kältesten Quellen fließenden Strom kaltstelle), einige Dosen mit Suppe (Soljanka), ein wenig eingeschweißtes Graubrot, fünfzehn Packungen Instant-Pelmeni. Auch eine Pfanne, Besteck, Teller und Tassen finden sich, alles wahrscheinlich zurückgelassen von einer geologischen Expedition oder Flüchtlingen aus einem der zahlreichen Kriege. Etwas weiter entfernt zischt Dampf aus einer Art kleinem Geysir, den ich nutzen kann, um meine Speisen zuzubereiten: ein unterirdisches Höhlenmahl der besonderen Art. Nach zwei oder drei Saunagängen fühle ich mich entspannt bis in die auch für mich unermesslichen Tiefen meiner Seele, bin reine Gegenwart, ohne Angst, Trauer oder Hoffnung. Die Temperatur beträgt angenehme 32 Grad, mein Penis hat beinahe seine normale Größe erreicht (besonders in schlaffem Zustand etwas unter dem Durchschnitt, aber ausreichend). Ich genieße mein köstliches, wenn auch nicht ganz frisches Abendbrot, gönne mir zwei Gläser Sekt, setze mich auf eine warme Felsformation, die einen natürlichen Sessel gebildet hat, und schaue mir das Farbenspiel der Fische an, die wie nautische Glühwürmchen agieren und deren Leuchtspuren mich belustigen. Nach ungefähr vier Stunden schlafe ich endlich ein.

Der Tunnel

Ninotschka hat es eilig, von hier wegzukommen, und etwas sagt mir, dass sie, obwohl sie höflich und durchaus zugewandt bleibt, auch von mir weg will, mich nach unserem Abenteuer, sollten wir es überleben, vielleicht niemals wiedersehen will. Wir robben durch einen langen Gang von vielleicht einem halben Meter Durchmesser. Das aus der Kammer in der Kathedrale Licht weist uns den Weg, wird aber schwächer. Manchmal wird unser Fluchttunnel enger, manchmal weiter, insgesamt aber mäandert er scheinbar endlos durch das sibirische Erdreich.

Ninotschka hat, noch immer unbekleidet, die Führung übernommen. Es wird wärmer, während wir uns weiter vorkämpfen; Erdwärme, denke ich, auch weil ich das Gefühl habe, dass es ein wenig bergab geht. Irgendwann wird der Tunnel noch breiter und höher, sodass wir aufstehen können. Auch scheinen die Wände stärker bearbeitet. Hin und wieder ist die Decke mit etwas Mörtel ausgebessert oder mit einem Balken – aus Beton, offenbar sind wir immer in der Sowjetunion – abgestützt. An der einen oder anderen Stelle erkenne ich Kacheln, mit Muster oder ohne. Teilweise Krankenhauskacheln oder solche wie aus einer Mensa. Als der Gang etwa zwei Meter breit ist, bleibt Ninotschka stehen, dreht sich zu mir um, wartet auf mich, und wir gehen nebeneinander weiter. Ich schaue sie fragend an, aber sie weicht meinem Blick aus. Obwohl klar ist, dass wir niemals ein Paar werden, treiben mich alte Mechanismen, offenbar vom Kleinhirn ausgehend, immer wieder in ihre Richtung, geben eine alte Hoffnung nicht auf. Mein Großhirn weiß allerdings gleichzeitig genau, dass die nächste Frau, die ein halbes Lächeln in meine Richtung wirft, den alten Bann lösen und einen neuen erzeugen wird. Du bist austauschbar, Ninotschka, denke ich und lächle erleichtert, grinse unkonfrontierend. Ein Grinsen, das infolge eines versehentlichen Blickes auf ihre im Takt ihres Gangs wippenden Brüste allerdings zu einer hässlichen Grimasse wird. Wir setzen schweigend unseren Weg fort, beide geradeaus starrend. Vielleicht, schießt ein Gedanke durch meinen ganzen Körper, jenen, der immer noch in eine lächerliche Mönchskutte gekleidet ist, vielleicht geht sie nur neben mir, damit ich ihren Alabasterkörper nicht von hinten sehe. Ja, wahrscheinlich ist das ihr Beweggrund, sicher wollte sie sich kein Stück annähern, nur schützen. Meine Stimmung stürzt noch weiter ab – absurd, wie autonom mein Gehirn seine Partnersuche fortsetzt, wo wir doch in einer so misslichen Lage sind.

Nach etwa sechs Stunden objektiver Zeit hat sich der Gang auf 18 Meter verbreitert, bei einer Höhe von sieben Metern. Es ist sehr heiß geworden. Ich habe mein schweres Leinengewand abgestreift und wandle nun ebenfalls unbekleidet durch diesen unwahrscheinlichen Ort. Wir haben während der ganzen Zeit kein Wort gewechselt, die Stimmung ist schlecht, sehr schlecht. Beide haben wir enormen Durst, beide schwitzen wir, was die Attraktivität meiner Begleiterin – sie führt die Expedition nun nicht mehr an, wir sind eigentlich gleichgestellt – nur noch mehr steigert. Auf ihrer nackten Haut mischen sich Schweiß und Erde und malen Muster auf Bauch und Rücken. Ihr Haupthaar hat sich an einigen Stellen, dem Stirnbereich hauptsächlich, aber auch der rechten Wange, angeklebt. Ihre blauen Augen starren nach vorne, ihr brünettes Haar jedoch schwingt in alle Richtungen, als meinte es auch mich.

Irgendwann finden wir Müll am Wegesrand, Wodka-Flaschen, Zigarettenstummel, alte Zeitungen. Wir fühlen einen leichten Wind, eine frische Brise. Es wird auch wieder kälter. Ich ärgere mich, meine Kutte so ohne weiteres aufgegeben zu haben, und wünsche mich zu den Olgas und all den anderen zurück, sogar zu Sascha.

Der Ausgang – für andere ist er wahrscheinlich ein Eingang – scheint nah. Ein schaler Lichtschatten schleift über den deutlich bearbeiteten Boden, es riecht nach Soljanka und in billigem Fett frittierten Würstchen. Allerdings handelt es sich um einen kalt gewordenen, abgestandenen Duft.

Plötzlich finde ich eine in der linken Wand eingelassene Tür, die sich deutlich von der inzwischen aus Platten (ähnlich jenen, die in der sowjetischen Baukunst Verwendung finden) bestehenden Wand abhebt. Irgendwie schäme ich mich, bin aber gleichzeitig bestrebt, dieses Gefühl – immerhin ist es nur ein Gefühl, keine echte Bedrohung – zu überwinden. Mein Penis ist aufgrund der einströmenden Kälte – Sibirien lässt wieder einmal grüßen – sehr klein geworden, ich verberge ihn vor Ninotschka, die immer schöner zu werden scheint, indem ich ihn zwischen meine Oberschenkel klemme. Mein Begehren wird stärker, aber niemals stark genug, um durchzudringen, die Barriere zu überwinden (es ist als wollte etwas in mir sie nicht wirklich). Andere Anteile wünschen sich noch immer, von ihr wahrgenommen und dann abgeholt zu werden: ich stelle immer neue Symbole auf, komme aber nicht aus meinem Versteck. Mache ich dann doch einen Schritt, weicht sie zurück, sie wird geübter darin, meine schüchternen Aufforderungen zu übersehen. Was auch immer mich steuert, welche Kräfte in meinem Inneren wirken – sie sind nicht ich. Und die Magie, die Menschen erotisch zusammenbringt oder -zwingt, sie stellt sich nicht ein, lässt sich nicht evozieren, nicht mit dem Wenigen, das ich aufzubieten bereit bin – und auch noch mehr Kraft, noch mehr Mut würden nicht helfen. Und das will ich Ninotschka begreiflich machen: dass wir auf derselben Seite kämpfen, wie verwirrte Kinder in einem feindlichen, schändlichen, letztlich unverständlichen Universum. Wobei mir im selben Moment klar wird, dass es eben dieses Universum sein könnte, dass diese Gedanken in jenes kaum zusammenhängende, zufällige System, das ich mein Ich nenne, induziert hat.

Ich gehe auf die Tür zu, spiele damit meinen letzten Trumpf aus. Ninotschka blickt mir höflich nach, eine Höflichkeit, die wie ein Messer in meinen Rücken sticht. Ach hätte ich doch noch meine alte Mönchskutte.

Ich öffne die Tür. Ein Gang erscheint, von antiquarischen Kandelabern, die ungeschickt an den Wänden befestigt sind, mühsam beleuchtet. Stalaktiten hängen von der hohen Decke herab, es tropft. Ich halte meine Zunge in das herabfallende Wasser und stille endlich meinen unendlichen Durst. Auch mein auf Ninotschka gerichtetes Begehren, das wahrscheinlich ohnehin nicht sehr tief war (eher eine Idee), verringert sich mit jeder Dosis dieses kostbarsten aller Getränke – aber nicht einmal diese Tatsache vermag ihr Interesse wieder zu wecken.

Ich schiele durch die angelehnte Tür und stelle fest, dass sie bereits ihren Weg in das Licht fortgesetzt hat; es spiegelt sich auf ihrem nackten, feuchten Körper und wird mehrfach gebrochen zurück auf den Weg geworfen, den wir zusammen gegangen sind und der nun ohne Bedeutung ist.

Ich schließe die Tür hinter mir. Und taste mich den Gang entlang, in eine neue Variation.

Erwachen

Der Raum hat sich geändert. Es ist nicht Oxana, die in der Ecke sitzt und weint, sondern Ninotschka. Hinter all unserem Wahnsinn verbergen sich empfindliche Seelen, hinter all dem Theater alltäglicher und außergewöhnlicher Situationen vegetieren fühlende Wesen vollkommen unbekannter Natur dahin, die fortwährend von den Persönlichkeiten, in die sie scheinbar unschuldig eingebettet sind, gezerrt und gezogen werden, in Richtungen, die sie nicht verstehen, in Welten, die so irreal sind, so fremd, dass eine gesunde Verbindung eine nicht einmal theoretische Option ist. In seltenen Momenten – den eigentlich heiligen Punkten der Raumzeit – fallen die Personae, die Masken, und die empfindlichsten der empfindlichen, zarten, eigentlich fühlenden Etwasse, jene Anteile von uns, die zu Beginn des Universums auf jenes kalte, harte Ding getroffen ist, das man das Sein nennt, begegnen einander.

Ich flüchte mich in die Hoffnung, dass das Weltall voller Planeten ist und dass es nur unsere Erde ist, auf der der Lauf des Lebens aus dem Takt geraten ist, dass der Kosmos als solcher gesund ist, richtig ist, in intakten Bahnen verläuft, satt und voller Leben, ich entfliehe dem verzweifelten Gedanken, dass Gott und die Welt im Kern krank sind… und lande hier, in einer Kammer im Herzen einer unmöglichen Kathedrale.

„Ninotschka“, flüstere ich, und sie sieht auf, erkennt mich, ich erkenne sie, nicht als Mann und Frau, sondern als irritierte Zeugen, die in ihren Körpern und Psychen gefangen einander suchen und sich im tiefsten Grunde wundern, wie sie hierher geraten sind. Strukturen aus Macht, Gier, Lust, Hunger, Begehren, Angst: unbekannt. Fremd. Nicht wirklich. Allerhand Tricks versuchen wir, wir akzeptieren, wir fliehen nicht den Augenblick, egal wie er ist, wir nehmen das So-Sein an. Und werden jederzeit korrumpiert, überrumpelt von unseren übergestreiften Persönlichkeiten, in die wir geboren wurden, mit denen wir identifiziert sind, die wir aber niemals waren und niemals wirklich sein konnten. Und auch wenn 0,0001% der Menschheit wirklich dazu in der Lage sein sollten, sich zu erleuchtenmit sich und der Welt eins zu sein, im Reinen – was nützt es all den anderen, die nicht das Glück haben, aus einem verrückten Zufall heraus sowohl die Kraft als auch die Einsicht zu besitzen und am richtigen Punkt der Raumzeit gelandet zu sein, der eine solch wunderbare Begegnung zwischen Materie und Geist, zwischen Zeuge und Welt, zwischen Sein und Nicht-Sein hervorbringt?

„Wir können alle nichts dafür“, sagt sie, und ich nicke. Wir sind eins. Grundsätzlich und in diesem Moment der Zeit, die uns auseinander gerissen hat, an diesem Punkt der Raumes, der uns alle – und wir sind weder viele noch eins – trennt.

Ich schaue mich um und stelle fest, dass die Kammer, in der wir uns befinden, keinen Ausgang hat, es gibt keine Tür und kein Fenster. Es gibt nur das Bett, in dem ich liege, einen Stuhl, neben dem Ninotschka am Boden sitzt, einen Schrank mit bis dato unbekanntem Inhalt, eine Truhe, ein Fell am Boden.

„Komm zu mir ins Bett“, rufe ich der Frau zu, die meinen Kosmos teilt, und sie steht schnell auf und kuschelt sich neben mich, erleichtert, aber leider spüre ich in dieser Erleichterung, die ein Gefühl ist und damit ein Ding des Seins, schon wieder eine Trennung. Kann man denn nur so kurz rein bleiben? frage ich mich und ignoriere die Frage sofort, weil mein Körper reagiert und mich in die Wirren der Realität zieht. Ich beobachte, wie ich Ninotschka umarme, an mich drücke, ihre Brüste in meinen Händen spüre, mir dessen bewusst werde, dass sie unter ihrem weißen Gewand nichts weiter trägt, ich streife den Stoff nach oben, greife ihren nackten Po, reibe ihn warm, werde erregt – und bin schon wieder verloren. Wir versenken unsere Körper ineinander, reiten auf dem Strom uralter Genesis, begeben uns auf den von der Evolution gebahnten, ja erzwungenen Weg  – und brechen ab, als sich schließlich unsere Augen finden und wir in wieder eine neue Welt erwachen.

„Wo sind wir?“ frage ich, und sie schüttelt den Kopf. „Lass uns von hier fortgehen“, sagt sie, und ich nicke, das in meiner Formulierung verborgene Klischee ignorierend.

Ninotschka steht auf, vollkommen unbekleidet. Ihre Haut ist weiß wie Schnee. Sie läuft im Raum umher auf der Suche nach einem Ausgang. Ich erhebe mich ebenfalls, beteilige mich an der Erkundung dieser unbekannten Geometrie. Hin und wieder knien wir nebeneinander auf dem Boden, sie nackt, ich angezogen wie ein mittelalterlicher Geistlicher, in einem groben, dunkelbraunen Leinengewand. Manchmal lauschen wir nach Geräuschen von draußen, unsicher ob es ein solches gibt. Es ist vollkommen still. Nur ganz, ganz selten hören wir das entfernte Zwitschern eines Vogels, noch viel seltener ein gedämpftes Wiehern oder den beinahe stummen Schrei eines alten Esels. Immerhin sind wir zu zweit, denke ich, hier und jetzt alleine zu sein wäre… und halte inne, denn ich weiß nicht was es wäre.

Schließlich findet Ninotschka unter einem Teppich eine Klappe im Boden. Anders als der Rest des Raumes handelt es sich um eine moderne Luke, ähnlich der eines U-Boots. Wir blicken uns an, und ich spüre ihren Atem auf meiner Wange. Dennoch ahne ich, dass unsere intensivste gemeinsame Zeit vorbei ist, dass ich sie nicht mehr erreichen werde, dass sich ihr wunderbarer und mein allenfalls mittelmäßiger Körper niemals vereinigen werden. Ich hatte meine Chance, aber ich habe sie wegen allerhand existenzieller Überlegungen nicht genutzt, mache ich mir klar, während ich fühle, wie Ninotschka immer weiter von mir weggleitet und dass kein noch so elegantes Wort, kein noch so eindeutiges Gefühl, kein Schmeicheln und kein Drängen sie zu mir zurückbringen werden.

Sie öffnet die Klappe.

Unter uns ist ein Gang, ein ausgebauter Tunnel. Sie steigt als erstes hinein, ich überlege kurz und folge dann. Zu gerne hätte ich gewusst was in dem Schrank ist, was die Truhe in sich birgt, was dies überhaupt für ein Raum ist. Aber die geringe, alberne Hoffnung, Ninotschka doch noch einmal nahe zu kommen, treibt mich hinter ihr her, in eine ungewisse, profane, aber immerhin nicht langweilige Zukunft.

Unsere erste Nacht

Die Führungselite, zu der nicht nur Sascha, sondern inzwischen auch einige Kandidaten aus der Economy gehören möchten, hat sich komplett auf der kleinen Anhöhe versammelt, auf der ihre Betten stehen. Es sind die besseren Betten, und es wurde ein wenig mehr Stoff für die Zudecken verwendet, die Kopfkissen sind flauschiger (wir haben die Federn von den Wildgänsen, die einige der Jäger aus der Economy geschossen haben, erhalten, echte Daunen, man hat sie uns devot als Geschenk überreicht – bei der Zeremonie fühlte ich mich unwohl, wie in der falschen Rolle, zuviel der Ehre – und selbst nur die Kadaver behalten und damit die Economy-Kopfkissen gefüllt). Und – aber das schrieb ich bereits – wir haben insgesamt mehr Platz.

Die Toten haben wir begraben, zuerst jene Namenlosen aus der Sub-Economy, dann fanden kleine Rituale für einige Leichenteile aus der Economy statt, soweit wir sie zuordnen konnten – tatsächlich gab es zwei Beerdigungen mehr als es hätte geben dürfen, ginge man nach der Anzahl der verkauften Tickets anstatt nach der Anzahl der mühevoll rekonstruierten Körper, die wir auf dem Permafrostboden ausgebreitet hatten -, und schließlich wurden Anatolij und Hans, der auch inzwischen gestorben war, offiziell beigesetzt. Die Olgas hatten geweint, und ihre Tränen schmeckten bitter, aber auch süß. Beide sind heimlich froh darüber, eine Belastung losgeworden zu sein.

Ein unwahrscheinliches Team aus Klempnern und Tischlern aus der Economy hat eine Reihe von durchaus eindrucksvollen Badezimmern konstruiert, mit einfachen Duschen – immerhin mit regelbaren Duschköpfen -, einigen Toiletten, die sie geschickt über einem zufällig gefundenen Erdloch angebracht haben, und einigen Waschbecken, teilweise echten aus dem Frachtraum, furniert mit nicht ganz legalem Edelholz, teilweise improvisiert aus Wandverschalungen. Dr. Benobi, ein wohlhabender Schweizer Jude, der aus gesunder Sparsamkeit in der Economy zu fliegen pflegt, ist Inhaber eines der größten Sanitärfachgeschäfte im Wallis und hat ordentlich in Asien eingekauft: es mangelt uns gewiss nicht an Duschköpfen, Toilettendeckeln, Aliberts, Bürsten, Klopapier (das sozialistische grobe Krepp für das Volk und das parfümierte aus Westdeutschland für die Führer) und was das Abortherz begehrt.

Es herrscht allerhand Gekicher und Gemurmel, als sich die Passagierschaft darauf vorbereitet, zu Bett zu gehen. Plötzlich sehe ich in einiger Entfernung meine Mutter, die offenbar in der Economy mitgeflogen war – ich hatte sie bislang gar nicht wahrgenommen. Sie hat mich noch nicht gesehen, und ich verstecke mich rasch hinter einem Baum und beobachte. Allem Anschein nach hat sie mit meiner Ex-Freundin, mit der sie sich fröhlich unterhält, denselben Flug genommen. Ich weiß nichts davon, dass die beiden gemeinsam einen Ausflug nach Asien unternommen haben. Irgendwie will ich sie nicht hier haben. Trotz der prekären Lage, in der wir uns alle befinden, fühle ich mich bedroht. Ich weiche weiter zurück, einen Abhang hinunter, stolpere, lande im feuchten Laub, das mich unter sich begräbt, schaufele mich frei, es fällt immer neues Laub, ich ziehe mich weiter, kann mich aufrichten, rutsche etwas weiter Richtung Tal, in der Ferne sehe ich Lichter, vielleicht eine Siedlung. Nein, eine Kapelle, aus der Kerzenlicht scheint. Ein Pferd ist vor dem Eingang angebunden, gesattelt, es trinkt Wasser aus einem Trog. Ich schwanke auf das Gotteshaus zu, aus dem leiser Gesang klingt. Die Geräusche meiner Mitpassagiere sind in der Entfernung verschwunden, hinter den akustischen Horizont gefallen. Ich wünsche mich in das vorbereitete Bett, neben Olga und Olga, möchte mich einkuscheln. Dann aber wird mir klar, dass ich mich verletzt habe, aus meinem linken Arm blutet es, eine klaffende Wunde. Meine Schläfe pocht. Schließlich erreiche ich die schwere, mit rostigem Eisen beschlagene Tür, der Gesang wird lauter, ich mache eine sonore Männerstimme und zwei oder drei in höheren Tonlagen schwebende Frauenstimmen aus, sie intonieren Gregorianische Choräle. Ich klopfe. Nichts. Ich klopfe lauter und höre Schritte. Der Gesang wirkt etwas irritiert, die Basslage verschwindet, ich höre wie jemand aufschließt, ein Spalt entsteht, Licht fällt in die Nacht, ein Auge lugt hervor, das Gesicht eines bärtigen Mannes erscheint, der Gesang ist rein weiblich geworden, etwas erratisch, komplexe Kadenzen. Man öffnet mir, ich trete ein.

„Sprechen Sie Deutsch?“, frage ich die russisch-orthodoxe Gestalt, die mich besorgt, aber durchaus freundlich, beinahe liebevoll, auf jeden Fall nachsichtig anschaut. Der Gesang ebbt ab, drei Frauen in weißen Gewändern kommen herüber und starren mich ebenfalls an.

Ich spreche Deutsch, ich habe in der DDR Sprachwissenschaften studiert. In Karl-Marx-Stadt“, antwortet eine von ihnen, die größte und zweitschönste, „mein Name ist Ninotschka.“ Die schönste aber bleibt ein wenig im Hintergrund, sie ist eine wahre Lichtgestalt.

„Das ist gut“, stammele ich, „das ist sehr gut. Ich bin verletzt. Die anderen… wir sind mit einem Flugzeug abgestürzt.“ Verwirrt stelle ich fest, dass ich nach beiden Olgas Sehnsucht habe und sie in meine Nähe wünsche.

„Schon gut“, sagt der Priester, der ebenfalls ein recht verständliches Deutsch spricht, nur seine R’s rumpeln wie Donnerhall, „wir kennen das. Ninotschka, hol etwas Wasser und zwei Leinentücher. Jelisaweta, etwa Tinktur. Oxana, etwas Wein aus dem Keller.“ Erleichtert sinke ich auf eine der Gebetsbänke – man kümmert sich um mich. Ich schaue mich um und stelle erstaunt fest, dass das Kirchenschiff weitaus größer ist, als es von außen den Anschein hatte. An den Wänden hängen herrliche Fresken. Der Altar ist reichlich verziert mit Gold und allerhand edlen Steinen. Es duftet nach Weihrauch und Wunderkerzen. Plötzlich wird es schwarz um mich. Ich flüstere noch „Oxana…“, bis ich von einer primordialen Lichtabsenz verschlungen werde.

Ich erwache auf einem weichen Seidenbett. Ninotschka beugt sich über mich und tupft meine Stirn mit einem feuchten Tuch – dem Turiner Grabtuch! Jedenfalls scheint es so.
„Du hattest hohes Fieber, aber jetzt bist du außer Lebensgefahr.“
„Wo… wo bin ich? Ist das ein Krankenhaus?“ frage ich sie.
„Sag mir erst deinen Namen, damit ich ihn hier eintragen kann“, sagt sie und weist auf ein dickes, großes Buch mit einem Ledereinband.
„Mein Name… ich erinnere mich nicht genau… mein Name ist O.“, antworte ich, verwirrt, aber in keiner Weise verunsichert. Ich wundere mich, das Ninotschka so stark atmet, ich spüre den Atem auf meiner Brust, die freigelegt ist. Warum das so ist, wird mir klar, als Jelisaweta den Raum betritt und einen Bottich mit ätherischen Ölen hereinbringt. Sie setzt sich auf die andere Seite des Bettes und beginnt, meinen Bauch mit der Flüssigkeit einzureiben. Es riecht nach Rosen und Veilchen, aber auch nach Buttermilch und Zahnpasta. Betörend und verstörend zugleich, ein olfaktorischer Widerspruch erster Güte.

„Das Fieber steigt wieder ein wenig“, stellt Ninotschka fest, „reibe du ihn noch kräftiger ein, Lisonka.“ Was diese tut. Die Reibungswärme treibt meine Temperatur zunächst weiter in die Höhe, wobei ich vermute, dass hier eine Art Homöopathie betrieben wird.
„Wir müssen dich ausziehen, um auch deine anderen Körperteile erreichen zu können, sonst sieht es schlecht aus“, erklärt Ninotschka, „ich werde Oxana holen. Wir nennen sie auch den irdischen Engel.“

Ich habe ein wenig Angst, dass mich meine Mutter und meine Ex-Freundin doch noch gesehen haben und mir hierher gefolgt sein könnten, mache mir aber gleich klar, dass das irrational und vollkommen neurotisch ist. Sie können mich nicht finden. Dennoch zucke ich bei jedem Geräusch zusammen, und um ganz sicher zu gehen, bitte ich die Frauen, das Licht in der Kapelle, die eigentlich eine Art Kathedrale ist, soweit zu löschen, dass kein Schein nach außen dringt. Das ist meine private Zuflucht, ich habe sie gefunden, denke ich, die Olgas können kommen, von mir aus auch Uhura, aber alle anderen mögen bitte bei dem Flugzeug bleiben.
Tatsächlich bläst Oxana, die bereits die mit christlichen Motiven übersäte Bettdecke von mir weggezogen und über eine Christusfigur in Originalgröße, die an der einen Wand angebracht ist, gehängt hat, einige der Kerzen aus, die den Raum erhellen. Dann kommt sie zum Bett zurück und beginnt, mir das Hemd abzustreifen. Ich bin in eine Art Kluft gekleidet, die wie ein mittelalterlicher Schlafanzug aussieht, nur das Muster ist modern, es handelt sich um ein sozialistisches Motiv: Soldaten, Bauern und Frauen mit Kopftüchern halten ihre Fäuste nach oben und schauen wütend drein. In den Händen halten sie Sensen, Spaten und Gerste.

Jelisaweta – Lisonka – wartet geduldig mit dem bis zum Rand gefüllten Trog, Ninotschka schreibt allerhand Informationen in das Buch und runzelt dabei voller Sorge die Stirn. Oxana entfernt meinen Schal, den sie auf eine riesige Holztruhe liegt, die in der Ecke steht und so wirkt, als verberge sich etwas Entscheidendes in ihr. Ich habe nur noch meine Hose und ein Paar Seidenstrümpfe an. Ninotschka hat ihre Notizen beendet, stellt das ledergebundene Buch in einen senkrecht an die Wand gelehnten Altar, der offenbar als Regal dient, und schaut mich an wie einen alten Film. Jetzt zieht mir Oxana die Hose aus – darunter habe ich nichts an -, und ich liege nur noch in Strümpfen da, was mich irritiert, während ich gleichzeitig innerlich zwischen meinen Fieberpolen oszilliere und teilweise wegtrete.
„Reib ihn nun ein, Lisonka“, befiehlt Ninotschka, „überall.“ Ich nehme mir vor, es geschehen zu lassen, ein bisschen habe ich auch Lust darauf, auch ein bisschen Angst, aber schließlich will ich gesund werden, als ich plötzlich entfernte Stimmen höre, die gedämpft von draußen hereindringen.

Olga. Olga 1!

Sie hat mich gesucht und fast gefunden. Ich fühle mich gerührt und geehrt. Lisonka hat nichts mitbekommen und beginnt, meine Beine einzureiben. Oxana hat sich neben das Bett auf einen Schemel gesetzt und schaut interessiert zu. Als ich mich aufrichten will, stelle ich fest, dass ich gelähmt bin, und auch sprechen kann ich nicht mehr. Wie gerne würde ich Olga rufen, ein vertrautes Gesicht sehen, eine Freundin an meiner Seite haben inmitten dieser Fremdheit, die mir plötzlich unwirklich erscheint. Ich kann aber nichts tun, bin vollkommen handlungsunfähig. Kein Muskel gehorcht.
Olga, von einem phantastischen, zielsicheren Instinkt getrieben, schlägt gegen die Tür, und nun zucken meine drei Pflegerinnen zusammen, blicken sich getrieben und schuldbewusst um. Der Priester kommt in den Raum gerannt, verschwitzt, aufgeregt. Ich merke, dass sich mehrere Personen draußen versammelt haben, mache Olga 2 aus, auch Sascha, für die ich plötzlich eine rührende Wärme empfinde (wie schnell doch aus Fremden, die man sogar abgelehnt hat, im passenden Kontext Freunde werden können). Letztere wirft sich gegen die Tür, alle im Raum spüren die Vibrationen, als Ex-Schwimmer hat sie natürlich eine enorme Kraft.

Wie enttäuscht bin ich – aber auch irgendwie erleichtert -, als sich abzeichnet, dass die Tür hält. Es gelingt meinen Freundinnen nicht, ins Innere der Kathedrale zu dringen. Oxana hat sich erhoben und lauscht, und als sie zu derselben Erkenntnis gelangt, flüstert sie ein leises Gebet an einen mir unbekannten Gott (wahrscheinlich ist es der christliche). Dann nickt sie Lisonka zu, die ihre Arbeit fortsetzt, doch bevor sie meine Genitalien erreicht, falle ich in einen tiefen Schlaf.