Am Boden des Trogs, an dessen tiefster Stelle, finde ich einen Abfluss, durch den der ganze Unrat hinausströmt. Er durchmisst ungefähr einen Meter, und nachdem ich das unbefestigt auf ihm liegende Gitter entfernt habe, schlüpfe ich hindurch und gelange in ein Röhrensystem. Eine der jungen Russinen ist mir auf den Fersen, aber ich ignoriere sie und lasse mich weiter hinabtreiben.
30 Sekunden später – meine Luft wird langsam knapp – werden wir von einer Strömung mitgerissen und fallen durch eine Öffnung in einen leeren, in ein schwaches Blau getränkten Raum. Ungefähr 15 Meter unter uns mache ich Wasser aus und bereite mich auf den Aufprall vor. Nachdem dieser erfolgt ist, tauche ich so schnell es geht ab, gerade rechtzeitig, denn meine Verfolgerin schlägt an derselben Stelle auf. Ich höre einen Knall und einen Schrei – offenbar hat sie einen Bauchklatscher gelandet.
Als ich auftauche, sehe ich, wie sie besinnungslos auf der Wasseroberfläche treibt, auf einer Schicht aus Blut und Soljanka. Offenbar hat sie sich verletzt.
Ich schaue mich um, kann aber keinerlei Ufer oder eine vergleichbare Einrichtung erkennen. Über uns mache ich nur den Abfluss aus, aus dem ständig neues Abwaschwasser nachläuft. In der Ferne sehe ich einige Stalaktiten. Das Wasser, in dem wir uns nun befinden, ist voller Plankton – daher die rudimentäre Raum rudimentäre Beleuchtung des Raums.
Plötzlich höre ich ein Geräusch, und gleich darauf sehe ich schemenhaft die Ursache: eine Flosse schaut aus dem Wasser heraus, 10 Meter entfernt, schnell näher kommend. Ein Hai! Er muss das Blut gerochen haben. Die Russin ist in großer Gefahr.
Ich gerate in Panik, suche nach scharfkantigen Essensresten, aus denen ich eine Waffe bauen kann, finde aber nichts. Der Hai hat uns beinahe erreicht, als aus dem Abfluss über uns ein Soldat in voller Montur fällt, genau auf ihn. Der Soldat ist sofort tot, der Hai bewusstlos. Auch wenn ich mich nicht sonderlich verantwortlich fühle für die nackte russische Abwascherin, kann ich sie nicht hier lassen. Ich weiß nicht, wer zuerst aufwachen wird – sie oder der Hai -, und ich will es nicht darauf ankommen lassen. Sicher wird der Hai zuerst den Soldaten verspeisen, oder aber sich gleich der aus seiner leckereren jungen Frau zuwenden. Außerdem gibt es vielleicht weitere Haie, die von dem Geschehen angelockt werden oder einfach von Natur aus neugierig sind.
Ich schwimme also mit ihr Huckepack in eine beliebige Richtung, in der Hoffnung, irgendwann Land zu erreichen. Wir hinterlassen eine deutlich sichtbare, gefährliche Spur: meine Begleitung hört nicht auf zu bluten.
–
Wie viel Zeit vergangen ist weiß ich nicht, aber nach einigen Stunden – ich bin schon völlig erschöpft – erreichen wir eine Art Insel. Es ist heller geworden – das Plankton im Wasser ist Legion und lässt die Umgebung in einem hellen, intensiven Blau erstrahlen. Andere Farben gibt es in dieser Welt nicht. Ich ziehe meine Begleiterin – die nun eine Gefangene ist – ans Ufer und setze mich neben sie. Es dauert nicht lange, und ich bin eingeschlafen.
Irgendwann erwache ich und spüre, wie jemand meinen Bauch streichelt (es ist natürlich die Russin, denn sonst ist niemand hier, außer einem alten Mann, der offenbar schon viele Jahre hier lebt, sich aber nicht für uns interessiert, sondern den Mustern des Planktons folgt, als lägen dort die letzten Geheimnisse des Universums verborgen – wie recht er hat). Die Luft ist warm und feucht. Auf der Insel gibt es einen Hügel mit einer kleinen Quelle, aus der frisches Wasser fließt. Wir können also unseren Durst stillen, haben aber nichts zu essen.
Ich lasse mich noch ein wenig streicheln – wie zufällig berühren ihre Unterarme manchmal meinen Penis – und halte dann ihre Hand.
„Hör zu“, flüstere ich, obwohl der alte Mann wahrscheinlich nichts mehr hört, oder aber, nach vielen Jahre im Untergrund, der menschlichen Sprache nicht mehr mächtig ist, „wir müssen hier weg.“
Sie nickt. Ihre Gesichtszüge werden von verkrustetem Blut nachgezeichnet – das steht ihr eigentümlich gut, sie hat die passenden Züge dafür. Dennoch halte ich ihren Zustand für kritisch.
„Du musst in ein Krankenhaus.“
„Kranken…. Haus….“, echot sie verwirrt, „was ist das?“
„Das ist jetzt nicht so wichtig. Kannst du gehen?“
Sie nickt, knickt aber bei dem Versuch aufzustehen schnell wieder ein.
„Okay. Ich werde dich tragen. Vorher müssen wir aber nach dem Weg fragen.“
Ich gehe zu dem alten Mann, der inzwischen eine Decke mit Gütern vor sich ausgebreitet hat, hinüber und nicke zum Gruße. Er erwidert und preist seine Waren. Es handelt sich um alte Batterien, teilweise ausgelaufen, eine ukrainische Zeitung von 1959, die linke Hälfte einer Polaroidkamera, einige Schlümpfe mit Produktionsfehlern – die Hüte fehlen -, und eine Dose Spargel. Ausschließlich diese interessiert mich. Spargel selbst hat zwar keine Kalorien, er ist aber in Béchamelsauce eingelegt.
„Was kosten?“ frage ich, in der Hoffnung, dass Infinitive verständlicher sind als konjugierte Verben.
Er hebt vier Finger.
Ich zucke mit den Schultern.
„Vier?“
Er schüttelt den Kopf und hält seine Hand vor mein Gesicht. Ich sehe, dass er, wie eine Disney-Figur, nur vier Finger hat.
„Fünf?“
„Dollar“, stellt er klar und nickt. Ich vermute, dass nicht viele Kunden vorbeikommen.
Schlagartig wird mir klar, dass ich kein Geld bei mir habe.
„Kredit?“ frage ich. Er schüttelt den Kopf. Wir brauchen aber die verdammte Béchamelsauce zum Überleben. Wie kann ich ihm das klarmachen?
Da schleppt sich meine gefangene nackte Russin heran – einige ihrer Wunden haben sich wieder geöffnet – und beginnt, seinen Kopf zu massieren, dann seine Schultern und seinen Rücken. Er schnurrt wie eine Katze und schließt die Augen, während er sich der Berührung hingibt.
Die Russin versucht, mir mimisch etwas mitzuteilen. Ich soll die Dose greifen? Ich soll sie dem alten Mann, der so wenig hat, stehlen? Ich schüttele den Kopf. Es muss anders gehen.
Sie rollt mit den Augen, genervt ob meiner Moral, die doch so viele meines Volkes nicht teilen. Dann flüstert sie dem Mann etwas ins Ohr, das ich nicht verstehe, aber er nickt zustimmend. Was nun geschieht, möchte ich nicht beschreiben, aber im Austausch bekommen wir die Dose überreicht. Und er schenkt uns noch ein kleines Floß dazu.