Unsere erste Nacht

Die Führungselite, zu der nicht nur Sascha, sondern inzwischen auch einige Kandidaten aus der Economy gehören möchten, hat sich komplett auf der kleinen Anhöhe versammelt, auf der ihre Betten stehen. Es sind die besseren Betten, und es wurde ein wenig mehr Stoff für die Zudecken verwendet, die Kopfkissen sind flauschiger (wir haben die Federn von den Wildgänsen, die einige der Jäger aus der Economy geschossen haben, erhalten, echte Daunen, man hat sie uns devot als Geschenk überreicht – bei der Zeremonie fühlte ich mich unwohl, wie in der falschen Rolle, zuviel der Ehre – und selbst nur die Kadaver behalten und damit die Economy-Kopfkissen gefüllt). Und – aber das schrieb ich bereits – wir haben insgesamt mehr Platz.

Die Toten haben wir begraben, zuerst jene Namenlosen aus der Sub-Economy, dann fanden kleine Rituale für einige Leichenteile aus der Economy statt, soweit wir sie zuordnen konnten – tatsächlich gab es zwei Beerdigungen mehr als es hätte geben dürfen, ginge man nach der Anzahl der verkauften Tickets anstatt nach der Anzahl der mühevoll rekonstruierten Körper, die wir auf dem Permafrostboden ausgebreitet hatten -, und schließlich wurden Anatolij und Hans, der auch inzwischen gestorben war, offiziell beigesetzt. Die Olgas hatten geweint, und ihre Tränen schmeckten bitter, aber auch süß. Beide sind heimlich froh darüber, eine Belastung losgeworden zu sein.

Ein unwahrscheinliches Team aus Klempnern und Tischlern aus der Economy hat eine Reihe von durchaus eindrucksvollen Badezimmern konstruiert, mit einfachen Duschen – immerhin mit regelbaren Duschköpfen -, einigen Toiletten, die sie geschickt über einem zufällig gefundenen Erdloch angebracht haben, und einigen Waschbecken, teilweise echten aus dem Frachtraum, furniert mit nicht ganz legalem Edelholz, teilweise improvisiert aus Wandverschalungen. Dr. Benobi, ein wohlhabender Schweizer Jude, der aus gesunder Sparsamkeit in der Economy zu fliegen pflegt, ist Inhaber eines der größten Sanitärfachgeschäfte im Wallis und hat ordentlich in Asien eingekauft: es mangelt uns gewiss nicht an Duschköpfen, Toilettendeckeln, Aliberts, Bürsten, Klopapier (das sozialistische grobe Krepp für das Volk und das parfümierte aus Westdeutschland für die Führer) und was das Abortherz begehrt.

Es herrscht allerhand Gekicher und Gemurmel, als sich die Passagierschaft darauf vorbereitet, zu Bett zu gehen. Plötzlich sehe ich in einiger Entfernung meine Mutter, die offenbar in der Economy mitgeflogen war – ich hatte sie bislang gar nicht wahrgenommen. Sie hat mich noch nicht gesehen, und ich verstecke mich rasch hinter einem Baum und beobachte. Allem Anschein nach hat sie mit meiner Ex-Freundin, mit der sie sich fröhlich unterhält, denselben Flug genommen. Ich weiß nichts davon, dass die beiden gemeinsam einen Ausflug nach Asien unternommen haben. Irgendwie will ich sie nicht hier haben. Trotz der prekären Lage, in der wir uns alle befinden, fühle ich mich bedroht. Ich weiche weiter zurück, einen Abhang hinunter, stolpere, lande im feuchten Laub, das mich unter sich begräbt, schaufele mich frei, es fällt immer neues Laub, ich ziehe mich weiter, kann mich aufrichten, rutsche etwas weiter Richtung Tal, in der Ferne sehe ich Lichter, vielleicht eine Siedlung. Nein, eine Kapelle, aus der Kerzenlicht scheint. Ein Pferd ist vor dem Eingang angebunden, gesattelt, es trinkt Wasser aus einem Trog. Ich schwanke auf das Gotteshaus zu, aus dem leiser Gesang klingt. Die Geräusche meiner Mitpassagiere sind in der Entfernung verschwunden, hinter den akustischen Horizont gefallen. Ich wünsche mich in das vorbereitete Bett, neben Olga und Olga, möchte mich einkuscheln. Dann aber wird mir klar, dass ich mich verletzt habe, aus meinem linken Arm blutet es, eine klaffende Wunde. Meine Schläfe pocht. Schließlich erreiche ich die schwere, mit rostigem Eisen beschlagene Tür, der Gesang wird lauter, ich mache eine sonore Männerstimme und zwei oder drei in höheren Tonlagen schwebende Frauenstimmen aus, sie intonieren Gregorianische Choräle. Ich klopfe. Nichts. Ich klopfe lauter und höre Schritte. Der Gesang wirkt etwas irritiert, die Basslage verschwindet, ich höre wie jemand aufschließt, ein Spalt entsteht, Licht fällt in die Nacht, ein Auge lugt hervor, das Gesicht eines bärtigen Mannes erscheint, der Gesang ist rein weiblich geworden, etwas erratisch, komplexe Kadenzen. Man öffnet mir, ich trete ein.

„Sprechen Sie Deutsch?“, frage ich die russisch-orthodoxe Gestalt, die mich besorgt, aber durchaus freundlich, beinahe liebevoll, auf jeden Fall nachsichtig anschaut. Der Gesang ebbt ab, drei Frauen in weißen Gewändern kommen herüber und starren mich ebenfalls an.

Ich spreche Deutsch, ich habe in der DDR Sprachwissenschaften studiert. In Karl-Marx-Stadt“, antwortet eine von ihnen, die größte und zweitschönste, „mein Name ist Ninotschka.“ Die schönste aber bleibt ein wenig im Hintergrund, sie ist eine wahre Lichtgestalt.

„Das ist gut“, stammele ich, „das ist sehr gut. Ich bin verletzt. Die anderen… wir sind mit einem Flugzeug abgestürzt.“ Verwirrt stelle ich fest, dass ich nach beiden Olgas Sehnsucht habe und sie in meine Nähe wünsche.

„Schon gut“, sagt der Priester, der ebenfalls ein recht verständliches Deutsch spricht, nur seine R’s rumpeln wie Donnerhall, „wir kennen das. Ninotschka, hol etwas Wasser und zwei Leinentücher. Jelisaweta, etwa Tinktur. Oxana, etwas Wein aus dem Keller.“ Erleichtert sinke ich auf eine der Gebetsbänke – man kümmert sich um mich. Ich schaue mich um und stelle erstaunt fest, dass das Kirchenschiff weitaus größer ist, als es von außen den Anschein hatte. An den Wänden hängen herrliche Fresken. Der Altar ist reichlich verziert mit Gold und allerhand edlen Steinen. Es duftet nach Weihrauch und Wunderkerzen. Plötzlich wird es schwarz um mich. Ich flüstere noch „Oxana…“, bis ich von einer primordialen Lichtabsenz verschlungen werde.

Ich erwache auf einem weichen Seidenbett. Ninotschka beugt sich über mich und tupft meine Stirn mit einem feuchten Tuch – dem Turiner Grabtuch! Jedenfalls scheint es so.
„Du hattest hohes Fieber, aber jetzt bist du außer Lebensgefahr.“
„Wo… wo bin ich? Ist das ein Krankenhaus?“ frage ich sie.
„Sag mir erst deinen Namen, damit ich ihn hier eintragen kann“, sagt sie und weist auf ein dickes, großes Buch mit einem Ledereinband.
„Mein Name… ich erinnere mich nicht genau… mein Name ist O.“, antworte ich, verwirrt, aber in keiner Weise verunsichert. Ich wundere mich, das Ninotschka so stark atmet, ich spüre den Atem auf meiner Brust, die freigelegt ist. Warum das so ist, wird mir klar, als Jelisaweta den Raum betritt und einen Bottich mit ätherischen Ölen hereinbringt. Sie setzt sich auf die andere Seite des Bettes und beginnt, meinen Bauch mit der Flüssigkeit einzureiben. Es riecht nach Rosen und Veilchen, aber auch nach Buttermilch und Zahnpasta. Betörend und verstörend zugleich, ein olfaktorischer Widerspruch erster Güte.

„Das Fieber steigt wieder ein wenig“, stellt Ninotschka fest, „reibe du ihn noch kräftiger ein, Lisonka.“ Was diese tut. Die Reibungswärme treibt meine Temperatur zunächst weiter in die Höhe, wobei ich vermute, dass hier eine Art Homöopathie betrieben wird.
„Wir müssen dich ausziehen, um auch deine anderen Körperteile erreichen zu können, sonst sieht es schlecht aus“, erklärt Ninotschka, „ich werde Oxana holen. Wir nennen sie auch den irdischen Engel.“

Ich habe ein wenig Angst, dass mich meine Mutter und meine Ex-Freundin doch noch gesehen haben und mir hierher gefolgt sein könnten, mache mir aber gleich klar, dass das irrational und vollkommen neurotisch ist. Sie können mich nicht finden. Dennoch zucke ich bei jedem Geräusch zusammen, und um ganz sicher zu gehen, bitte ich die Frauen, das Licht in der Kapelle, die eigentlich eine Art Kathedrale ist, soweit zu löschen, dass kein Schein nach außen dringt. Das ist meine private Zuflucht, ich habe sie gefunden, denke ich, die Olgas können kommen, von mir aus auch Uhura, aber alle anderen mögen bitte bei dem Flugzeug bleiben.
Tatsächlich bläst Oxana, die bereits die mit christlichen Motiven übersäte Bettdecke von mir weggezogen und über eine Christusfigur in Originalgröße, die an der einen Wand angebracht ist, gehängt hat, einige der Kerzen aus, die den Raum erhellen. Dann kommt sie zum Bett zurück und beginnt, mir das Hemd abzustreifen. Ich bin in eine Art Kluft gekleidet, die wie ein mittelalterlicher Schlafanzug aussieht, nur das Muster ist modern, es handelt sich um ein sozialistisches Motiv: Soldaten, Bauern und Frauen mit Kopftüchern halten ihre Fäuste nach oben und schauen wütend drein. In den Händen halten sie Sensen, Spaten und Gerste.

Jelisaweta – Lisonka – wartet geduldig mit dem bis zum Rand gefüllten Trog, Ninotschka schreibt allerhand Informationen in das Buch und runzelt dabei voller Sorge die Stirn. Oxana entfernt meinen Schal, den sie auf eine riesige Holztruhe liegt, die in der Ecke steht und so wirkt, als verberge sich etwas Entscheidendes in ihr. Ich habe nur noch meine Hose und ein Paar Seidenstrümpfe an. Ninotschka hat ihre Notizen beendet, stellt das ledergebundene Buch in einen senkrecht an die Wand gelehnten Altar, der offenbar als Regal dient, und schaut mich an wie einen alten Film. Jetzt zieht mir Oxana die Hose aus – darunter habe ich nichts an -, und ich liege nur noch in Strümpfen da, was mich irritiert, während ich gleichzeitig innerlich zwischen meinen Fieberpolen oszilliere und teilweise wegtrete.
„Reib ihn nun ein, Lisonka“, befiehlt Ninotschka, „überall.“ Ich nehme mir vor, es geschehen zu lassen, ein bisschen habe ich auch Lust darauf, auch ein bisschen Angst, aber schließlich will ich gesund werden, als ich plötzlich entfernte Stimmen höre, die gedämpft von draußen hereindringen.

Olga. Olga 1!

Sie hat mich gesucht und fast gefunden. Ich fühle mich gerührt und geehrt. Lisonka hat nichts mitbekommen und beginnt, meine Beine einzureiben. Oxana hat sich neben das Bett auf einen Schemel gesetzt und schaut interessiert zu. Als ich mich aufrichten will, stelle ich fest, dass ich gelähmt bin, und auch sprechen kann ich nicht mehr. Wie gerne würde ich Olga rufen, ein vertrautes Gesicht sehen, eine Freundin an meiner Seite haben inmitten dieser Fremdheit, die mir plötzlich unwirklich erscheint. Ich kann aber nichts tun, bin vollkommen handlungsunfähig. Kein Muskel gehorcht.
Olga, von einem phantastischen, zielsicheren Instinkt getrieben, schlägt gegen die Tür, und nun zucken meine drei Pflegerinnen zusammen, blicken sich getrieben und schuldbewusst um. Der Priester kommt in den Raum gerannt, verschwitzt, aufgeregt. Ich merke, dass sich mehrere Personen draußen versammelt haben, mache Olga 2 aus, auch Sascha, für die ich plötzlich eine rührende Wärme empfinde (wie schnell doch aus Fremden, die man sogar abgelehnt hat, im passenden Kontext Freunde werden können). Letztere wirft sich gegen die Tür, alle im Raum spüren die Vibrationen, als Ex-Schwimmer hat sie natürlich eine enorme Kraft.

Wie enttäuscht bin ich – aber auch irgendwie erleichtert -, als sich abzeichnet, dass die Tür hält. Es gelingt meinen Freundinnen nicht, ins Innere der Kathedrale zu dringen. Oxana hat sich erhoben und lauscht, und als sie zu derselben Erkenntnis gelangt, flüstert sie ein leises Gebet an einen mir unbekannten Gott (wahrscheinlich ist es der christliche). Dann nickt sie Lisonka zu, die ihre Arbeit fortsetzt, doch bevor sie meine Genitalien erreicht, falle ich in einen tiefen Schlaf.