Nur hier und nur heute, limitiert und reduziert

„Dieses Blog ist die schönste Botschaft des Kapitalismus. Dieser lässt sich hier live erleben wie sonst irgendwo – und einmalig entspannt, weil niemand sich über irgend etwas aufregen muss. Hier, und nur hier, wird mit offenen Karten gespielt.“

Ich überfliege meine Zeilen noch einmal und entscheide, in Moskau einen professionellen Texter zu engagieren. In den Vorstädten gibt es günstige Büros, man muss sie nur finden. Ohnehin kann man bei dem Lärm hier oben nicht arbeiten.

Die Maschine Richtung russische Hauptstadt scheint sich während des Fluges langsam zu entleeren. Wir waren gestern in Tokyo gestartet (oder Peking? – die Ereignisse verwirren mich, die Reise dauert schon zu lange, ich bin müde und verschwitzt, mein T-Shirt klebt an meinem Rücken). Macht mein Entwurf Sinn? Es ist 1991, viele Dinge sind absehbar, aber noch nicht vorhanden. Irgendwann, da bin ich sicher, werden wir vernetzt sein, alle werden allen zuhören, wir werden überwacht sein, und elektrisch verliebt.

Einige Meter hinter mir sitzt ein älteres japanisches Ehepaar, sie nur Haut und Knochen, er trägt die kantigen Gesichtszüge eines Samurai. In der Reihe vor mir schlafen zwei Schwarzafrikanerinnen, vielleicht aus Uganda oder dem Kongo, jedenfalls in bunten Kleidern (viel Stoff war nötig um diese zu nähen), mit offenen Mündern, die Köpfe aneinander gelegt, wie Schwestern oder Cousinen dritten Grades. Aus der Ferne klingen Kindergeschrei und das zornige Schnarchen entmachteter Eltern.

Eine rothaarige Stewardess serviert schwarzen Kaffee, und als sie mich vor die Wahl „Milk, sugarrr“ stellt, blinzelt der stämmige, ukrainische Flugbegleiter vom Ende des anderen Ganges böse zu uns herüber. Er scheint ausschließlich mich verantwortlich für die sich andeutende Nähe zwischen uns beiden – der Flugbegleiterin und dem Gast – zu machen, was falsch ist, ihm aber ermöglicht, sein Bild von der Sowjetschönheit, die sich gerade über mich beugt, zu bewahren und sich nicht der Einsicht stellen zu müssen, dass sie aufgrund ihres Berufs vielen Männern viele Dinge servieren muss und dies eventuell gerne tut. Jedenfalls lächelt sie mich viel zu lange an.

„Only milk, please“, antworte ich, mich räuspernd, und schiele zu meinem Konkurrenten, der auch Leiter der Cabin Crew ist, hinüber. Dieser schiebt seinen Wagen mürrisch vor sich hin und murmelt kyrillische Flüche. Als mir Olga – der Name steht auf ihrem Schild – den Kaffeeersatz eingießt, berühren sich unsere Wangen, und sie streift mich mit ihrer linken Brust. „Thank you“, flüstere ich, während im anderen Gang Anatolij – so nennt ihn sein Schild – eine Wut in sein slavisches Gesicht steigt, die man enorm nennen kann.

„Olga“, ruft er schließlich durch die Sitzreihen, gefolgt von einer ungehobelten ukrainischen Tirade. Schnellen Schrittes kommt er zu uns herüber, stößt dabei seinen Wagen gegen eine der Schwarzen, die aufschreckt und „What the?“ ruft, und greift Olga schließlich mit seinen gewaltigen Pranken – wie riesig sie sind wird mir erst jetzt klar – in die Haare. Brutal beugt er sie Richtung Kabinenboden, schimpfend und schnaufend wie ein ostsibirischer Schaufelbagger.

Sascha kommt daher, die breitschultrige Matrone, ein weiteres, sehr dienstaltes Mitglied der Besatzung, frühere Sowjetschwimmerin, noch früher ein Mann, daher der Name. Zufrieden beobachtet sie den Disput, dem, so antizipiert sie, eine Erhöhung ihres Status an Bord folgen könnte. Sogar die Pilotin und der Kopilot sind nicht mehr unerreichbar in der Hierarchie, denkt sie. Jene sind auch privat ein Paar, das stärkt sie ihren Status an Bord der Iljuschin Il-96-300, aber ebenso schwächt es sie, vielleicht in einer Weise, die sie im Rausch ihrer jungen Liebe noch gar nicht ahnen. Sascha hat ihnen aufgrund ihrer Reife sehr viel voraus. Und so jung ist ihre Liebe ja auch gar nicht mehr.

Anatolij schimpft weiter auf die arme Olga ein, die sich inzwischen wimmernd am Boden windet, als er plötzlich durch ein Rumpeln aus dem unteren Bereich des Flugzeugs unterbrochen wird. „Ignorrrrierrren!“, fordert ihn Sascha, auch Alexander genannt, auf – Alexandra konnte sie nicht durchsetzen, zu männlich wirkt ihr voller Bart, den sie sich abzunehmen weigert, sie will geliebt werden wie sie ist, das wollen sie alle. Bisher fühlte sie sich Olga, gegen deren Attribute – glatte Haut, straffe Brüste, volles Haar, eine junge Schönheit mit dem Gesicht eines Models – sie wenig entgegenzusetzen hatte, immer unterlegen, jetzt nicht mehr, jetzt kommt ihre Stunde, die Stunde des Siegers (der Siegerin, korrigiert sie sich innerlich selbst).

Das von unten kommende Rumpeln und Rascheln und Dröhnen wird lauter, sodass ich mich von dem eigentlichen Geschehen abwende und aus dem Fenster blickend nach möglichen Gründen für diese beunruhigenden Geräusche suche. Das Fensterglas ist notdürftig repariert mit Splittern aus altem Kirchenfenster, überhaupt ist die Maschine nicht neu und im engeren Sinne fluguntauglich, aber ich hatte keine Wahl (auch wenn ich mich nicht genau entsinne warum), ich musste sie nehmen (vielleicht war es der letzte Flug heraus aus Peking oder Tokyo, ja wahrscheinlich sogar, der letzte Flug bevor etwas Schreckliches passiert; vielleicht war es auch nur der billigste Flug, und die durch die schlechte Schirmung der Maschine dringende kosmische Strahlung hat mein Gedächtnis getrübt). Durch geborstene Elemente des Gesichts der Mutter Gottes sehe ich, dass wir Baumwipfel streifen – der Flieger konnte schon während des ganzen Fluges seine Höhe nicht recht halten -, so niedrig allerdings waren wir noch nie. Die Pilotin hat das Fahrwerk ausgefahren, sodass sie besser mitverfolgen kann, wie nah wir dem Boden sind. Die Tür zum Cockpit öffnet sich, heraus torkelt der Pilot, der Mann der Pilotin, er hat getrunken. Es wird einen Streit gegeben haben, denke ich mir, hoffentlich bringt das die Passagiere nicht in Gefahr. Sascha lächelt, ihre Zähne sind makellos und gut gepflegt (das sieht nach Zahnseide aus, oder Kukident), aber leider nicht weiblich.

Im hinteren Teil der Iljuschin – die beiden dunkelhäutigen Frauen, das japanische Ehepaar und ich sitzen vorne in der Business Class, wie ich feststelle – stecken die Kleinkinder einander mit ihrem Geschrei an, es entsteht ein wahrer Kindergarten, eine Kakophonie des Infantilen. Die letzte, noch nicht erwähnte Person, die vorne mit uns auf den teuersten Plätzen sitzt (und teuer heißt bei Aeroflot immer noch die Hälfte billiger als bei der Konkurrenz), ist ein saudischer Ölprinz – eigentlich reist er mit drei Frauen, die aber im hinteren Teil des Flugzeugs sitzen und ihm nur hin und wieder etwas bringen, ich kann nicht sehen was. In seiner linken Hand hält er eine Wasserpfeife. Die Solidarität, die aufgrund der Aggression des russischen Flugbegleiters zwischen den Passagieren entstanden ist  – eigentlich sind es zwei Solidaritäten, eine zwischen den Persönlichkeiten mit First Class-Tickets (wie ich dazu kam weiß ich nicht mehr) und eine zwischen dem einfachen Volk hinten in der Economy -, führt zu allerhand Gemurmel: wir bestätigen einander unsere Empörung.

Der Co-Pilot hat sich inzwischen ebenfalls nach hinten zurückgezogen, was die Kinder zum Verstummen brachte. Bei Aeroflot gibt es noch eine dritte Klasse unterhalb der Economy, und manche sagen es gäbe noch eine vierte, die aber nicht Teil der offiziellen Vorgänge ist. Vielleicht ist er dorthin.

Olgas Haar hat sich gelöst, was sie noch attraktiver macht, und Anatolij hat von ihr abgelassen, zum Leidwesen Saschas. Der Rumpeln wird lauter, die Maschine kann sich nicht mehr in der Luft halten. Die Pilotin tut ihr Bestes, die Japaner sind ängstlich, den Ölprinz kümmert es nicht, die Schwarzen schlafen weiter.

Olga sammelt sich und steht auf, richtet ihre Haarpracht, murmelt verwirrt oder pflichtbewusst „Will serrrve dinnerrr now“, als die Iljuschin plötzlich einen Satz macht und sich um 30 Grad nach links neigt. Die Flugbegleiterin taumelt und landet in meinen Armen, Sascha hingegen fällt auf Anatolij. Der ist sofort tot. Im ersten Moment scheint sie geschockt, vielleicht hatte sie ihn gemocht, gleich aber spiegelt sich in ihren Augen wieder der Wille zur Macht.

Wir durchfliegen einen Canyon, links und rechts aus den bunten Fenstern kann ich Felswände sehen, und Vögel, die unseren Abstieg interessiert, aber auch gleichgültig begleiten.