Der Intelligenzdienst

„Aufmachen“, ruft der alte Mann im dunklen Anzug und hämmert gegen die Tür meines Toyota-Daimler-Hybriden. Sein Kollege – der junge Mann – lächelt milde und spricht in sein Kehlkopfmikro:
„Tür des Autos vor mir öffnen und System herunterfahren!“ Das Auto gehorcht: die Schlösser entriegeln sich, die Türen springen auf, und ich werde aus dem Betriebssystem meines fahrbaren Untersatzes ausgeloggt.

„Aussteigen“, befiehlt der alte Mann, „Hände auf die Motorhaube.“ Ich gehorche. Der junge Mann mit der hässlichen Brille sagt „Subjekt scannen“, wartet einen Moment, liest was die Brille in sein Sichtfeld speist, nickt schließlich seinem Vorgesetzten zu (noch immer halten die staatlichen Behörden an traditionellen Werten fest; noch immer können sie die absurde Regel durchsetzen, dass ältere Menschen höher gestellt sind als jüngere) und erklärt:
„Sauber.“

„Natürlich bin ich sauber“, bestätige ich, „ich habe nicht die geringste Ahnung, was das hier soll. Gegen mich liegt nichts vor.“
„Das sagen sie alle“, antwortet der Ältere, während der Jüngere vorliest, was seine Brille inzwischen alles herausgefunden hat.
„Falsch. Gegen Sie unglaublich viel vor. In 62 Telefonaten Verabredungen mit Menschen getroffen, die gegen Atomkraft sind, an 16 möglicherweise illegalen Versammlungen teilgenommen (Daten und Bildmaterial stehen selbstverständlich zur Verfügung und können auf Anfrage eingesehen werden), auf 392 möglicherweise illegalen Websites gesurft, 14 Likes auf Sclr für möglicherweise illegale Vereinigungen… soll ich fortfahren? Und vor allem haben Sie für all Ihre Online-Aktivitäten über einen schwedischen VPN-Dienst genutzt – Sie wissen, dass Verschlüsselungstechnologien und insbesondere VPNs seit über drei Jahren verboten sind?!“

Das genügt dem Älteren.
„Bürger, Sie sind vorläufig festgenommen! Danke, dass Sie uns – wenn auch indirekt durch das Nicht-Ablegen der deutschen Staatsbürgerschaft – beauftragt haben, für die Sicherheit des Staates zu sorgen.“
„Sie sind vollkommen verrückt“, sage ich. Der alte Mann verfügt nicht über die emotionale Kontrolle des jungen und wird zornig, der andere aber, vermutlich unterstützt durch seinen unbestechlichen permanenten Zugang zur Wahrheit, nickt.
„Das ist richtig. Statistisch gesehen hat die unaufhaltsame Umwandlung unserer Gesellschaft in eine vernetzte wegen der Menge unverarbeitbaren Inputs zu einer massiven Zunahme an geistiger Verwirrung geführt, quer durch alle Klassen, Schichten und Bandbreiten. Mich selbst nehme ich davon ausdrücklich nicht aus.“
Jovialer Arsch, denke ich.

„Peter“, versucht der ältere Kollege den jüngeren hilflos zur Ordnung zu rufen, „lass das.“

Peter nickt, ohne seine selbstbewusste Gönnerhaftigkeit im geringsten abgelegt zu haben, legt mir Handschellen an,  verschließt sie mittels eines in sein Mikro geflüsterten Befehls, und schiebt mich in den Einsatzwagen. Er selbst setzt sich auf den Beifahrersitz, der Ältere hinten neben mich. Ich sehe, wie mein Auto bootet, sich dann einen Parkplatz sucht, und wieder herunterfährt.

Einige Zeit später finde ich mich in einem Raum wieder, dessen Wände vom Dunkel geschluckt werden. Es riecht metallisch. Und es ist still. Ich sitze auf einem Stuhl, meine Hände sind auf der Rückseite gefesselt. Vor mir steht ein Metalltisch, auf dem sich ein Behälter mit einer Öffnung befindet. Nichts Gutes, ahne ich.

Dann zischt es leise – kaum wahrnehmbar wird etwas aus dem Kasten in den Raum gesprüht. Kurz danach riecht es nach Madagaskar-Vanille, Korfu-Majoran und vielleicht Rumänien-Veilchen.

„Pheromone“, erklärt eine tiefe männliche Stimme aus dem Off, die es liebt, sich selbst sprechen zu hören. Rollen machen Leute, erkenne ich wieder einmal. Ähnlich wie Kleider, aber noch profunder.

In solchen Situationen muss man cool bleiben. Ich erinnere mich an vergangene Filmszenen, in denen der gefangene Agent ironische Sprüche klopft. Das versuche ich auch:
„Bin ich eine Motte, die Sie in Ihre Klebefalle locken wollen?“
„Hm“, meint die Stimme, und in diesem Hm schwingt eine Enttäuschung mit, als hätte man sich auf einen schlagfertigeren Gegner gefreut. Ich muss besser werden.
„Nun denn“, fährt die Stimme nicht weniger ungeschickt fort, „wollen wir beginnen.“

Eine Tür öffnet sich im Dunkel, rechteckiges Licht fällt ein, eine junge, nicht sehr hübsche Frau kommt herein.
„Das ist unsere Praktikantin Marianne“, erklärt die Stimme, „sie möchte Agentin werden. Im Rahmen Ihrer Ausbildung muss sie Verhöre durchführen. Sie ist befugt, alle Mittel einzusetzen. Ich empfehle Ihnen zu kooperieren.“
Die Tür öffnet sich erneut, und eine weitere Frau tritt ein, die stramm auf die Vierzig zugeht.
„Das ist Lena. Sie hat ihr Praktikum bereits absolviert.“

Lena kommt näher, und ich erkenne, dass die mit den Augen rollt und gelangweilt schaut.
„Das höre ich nun schon seit 16 Jahren“, vertraut sie mir flüsternd an. „Die haben einfach kein Geld und arbeiten nur noch mit Praktikanten. Der junge Typ, der dich festgenommen hat, ist auch einer. Peter. Sozialkrüppel, aber eloquent und gut im … Netz.“
Marianne baut sich neben Lena auf und schnaubt voller Verachtung.
„Du hast es einfach nicht gebracht, Lena, und jetzt machst Du den BND dafür verantwortlich.“
„Den BND?“ frage ich überrascht. „Ihr seid gar keine Polizei?“
Wütend dreht sich Marianne zu mir um und schlägt mir hart ins Gesicht.
„Du hältst den Mund und antwortest nur, wenn Du gefragt wirst.“
Was für ein Klischee, denke ich und schmecke Blut. Böser Bulle. Bulette. Kuh. Wie sagt man? Zwei Frauen – gute Kuh, böse Kuh?

Lena läuft einige Schritte zurück ins Dunkel und kommt mit einer Packung Tempos zurück. Sie beugt sich über mich und tupft Blut aus meinen Mundwinkeln. Ihr Atem riecht nach Schokolade.
„Mit der ist nicht zu spaßen. Die wissen, dass Du Anfang der 80er in Russland unterwegs warst. Sag besser alles. Ich weiß nicht, wie lange ich dich beschützen kann. Marianne will es denen beweisen. Sie ist eine Streberin.“

„Lena, ich warne dich“, brüllt Marianne von hinten, „noch ein Wort und ich mache dich kalt.“
„So kalt wie du bist, Marianne, kann ich gar nicht werden.“ Offenbar bin ich nicht der Einzige, der heute unter Nichtschlagfertigkeit leidet.
Das treibt Schaum aus Mariannes Mund, und sie schlägt erneut zu, diesmal in meine Magengrube.
„Umpf“, sage ich und kassiere einen Tritt gegen das Schienbein.
„Mister X“, ruft Lena verzweifelt in die Luft, „tun Sie etwas!“ Aber die Stimme antwortet nicht. Man hört nur, wie sie übertrieben laut an einer Zigarre saugt (und wahrscheinlich eine weiße Katze streichelt). Für einen Moment werde ich ohnmächtig.

Als ich wieder zu mir komme, sehe ich Marianne mit einem Schlagring vor mir stehen. Und noch mehr hat sich verändert: sie kommt mir ungeheuer attraktiv vor. Ihre Pickel wirken wie Sommersprossen, ihr Doppelkinn muskulös und geschmeidig. Ihren nächsten Schlag spüre ich kaum. Ich falle mit dem Stuhl nach hinten und werde von Lena aufgefangen. Sie beugt sich voller Sorgen über mich und ist – die schönste Frau der Welt.

Die Pheromone! verstehe ich. So kochen sie mich weich. Sie pumpen mich voll, mein Körper flutet sich selbst mit Oxytocin und Serotonin, und ich tue alles für sie aus Liebe und Lust.

Lena streichelt mein Gesicht und gibt mir einen zärtlichen Kuss.
„Tu was sie sagen“, versucht sie es wieder, „ich könnte nicht ertragen, wenn dir etwas zustößt.“
Mit den Resten meines Verstandes erkenne ich, dass ihre Augen kalt sind. Ihre Brüste, die die Festigkeit der Jugend zu verlieren begonnen haben, streichen über meinen Bauch, als sie beginnt, meinen Gürtel zu öffnen.
„Ich kann leider nichts dagegen tun“, lügt sie, „Mister X hat etwas gegen mich in der Hand. Außerdem ist er mein Onkel – der einzige, den ich noch habe.“
„Ich verstehe das gut“, antworte ich geschickt, „ich hatte auch mal einen Onkel, aber jetzt ist er tot. Er ist gestorben.“
„Das tut mir leid“, antwortet Lena, „wie ist er denn gestorben?“

Während sie das fragt, hat sie meine Jeans herunter gezogen, sodass ich in T-Shirt und Unterhose daliege. Ich beschließe, mich auf die Unterhaltung einzulassen, um mich von der pheromoninduzierten Wollust abzulenken, unter der ich immer mehr leide. Außerdem führe ich euch auf eine falsche Fährte.

„Es war in der Mongolei. Er war eine Zeitlang russischer Agent. Der KGB hatte ihn dazu gezwungen“, erkläre ich, „er wollte das nicht. Aber sie hielten seine Schwester in einem Gulag fest. In Sibirien, weißt du.“
„Ja, ich habe davon gehört“, antwortet Lena. Aus den Augenwinkeln beobachte ich, dass Marianne dem Gespräch mit wachsender Zufriedenheit zuhört. Mache ich etwas falsch? Mache ich genau was sie wollen? Ändere deine Strategie! befehle ich meinem Unterbewusstsein.
„Aber das war nicht meine Mutter, sondern eine weitere Tante. Ich hatte acht Tanten und einen Onkel.“
Lena nickt.
„Aber nicht alle Tanten waren mütterlicherseits. Es gab auch väterlicherseitse Tanten.“ 

Plötzlich wird Lena kalt, kälter als Marianne.
„Er ist bereit“, erklärt sie.