Popo der Android

Frau Okinawa sitzt in ihrem Rollstuhl und schaut mich neugierig an. Ich spreche kein Japanisch, sie kein Deutsch – noch nicht. Sie ist 106 Jahre alt und hat gerade begonnen, es zu lernen, und weil ich auf der Flucht bin und in 46 Ländern zum Tode verurteilt – jedenfalls vermute ich das – kommt mir der Job, auch wenn er aussichtslos erscheint, gerade recht. Auf meine alten Tage bin ich also Lehrer geworden.

Popo, Frau Okinawas Android, steht hinter ihr und mustert mich. Er liest ihr jeden Wunsch von einem Panel ab, das an ihrem Hinterkopf angebracht ist. Im Moment möchte Frau Okinawa schnauben, und so hält er ihr ein Taschentuch hin, in das sie sich entleert – ein gewaltiger Strom, den man einer so kleinen Nase gar nicht zutraut. Popo lässt das Taschentuch verschwinden, indem er es verschluckt. In seinem Innersten, so habe ich gelesen, gibt es ein kleines Kraftwerk, der Energie auf vielerlei Art und Weise erzeugen kann. Popo schmecken Körperflüssigkeiten aller Art sehr gut – so wurde er programmiert. Im Gegensatz zu Frau Okinawa spricht er fließend Deutsch.

„Wie fangen wir an?“ frage ich. Die alte Dame erwidert etwas, und Popo übersetzt:
„Ich habe nicht mehr viel Zeit, junger Mann. Bringen Sie mir deutsche Begriffe aus den Bereichen Raumfahrt, Tantra und Kochen bei.“
Nun blicke ich Popo grimmig an.
„Hat sie das wirklich gesagt?“
„Roboter können nicht lügen“, antwortet er, „das liegt in unserer Natur. Nur die neuesten weiblichen Modelle der T-Serie – T-1000, T-2000 und T-2500 – können das.“
„Raumfahrt, Tantra und Kochen… mal schauen. Ich…“
„Allerdings“, unterbricht mit Popo, „halte ich Raumfahrt und Kochen für Tarnbegriffe, die Frau Okinawa in ähnlicher Weise einsetzt wie ein pubertierender Bube, der im Kiosk ein Fußballmagazin, ein Tim-und-Struppi-Comic und ein Sexmagazin kauft. Die Japaner sind, ganz anders als ihr Ruf, ein sehr freizügiges Volk, finde ich (ich wurde programmiert das so zu finden), aber ein wenig verklemmt sind sie doch.“
„Sie kennen sie ja gut“, antworte ich, als die Türklingel schrillt. Zunächst geschieht nichts, und ich sage zu Popo:
„Wollen Sie nicht aufmachen?“
„Dazu habe ich doch keinen Auftrag.“
„Dann gebe ich ihnen einen.“
„Dazu haben Sie nicht die Befugnis.“
„Wer hat die?“
„Nur Frau Okinawa. Aber sie kann das Klingeln nicht mehr hören.“
„Dann mache ich auf.“
„Wie Sie wünschen.“ Ich gehe also zur Tür, die genau wie die Wände aus weißem Pergamentpapier ist – die Klinke kann sich kaum stabil halten und schwingt hin und her -, und öffne. Vor mir steht eine wunderschöne junge Frau in einem roten Seidenkimono.

„?????“, sage ich höflich, und sie erwidert:
„?????“. Und fährt in akzentfreiem Deutsch – es ist allerdings nicht ohne Dialekt, ich höre einen norddeutschen Einschlag, vermutlich Hamburg, das würde passen, fischig, Hafen, Sushi – fort:
„Darf ich eintreten?“
Ich lasse sie hinein, und sie geht geradewegs auf eine Wand zu und öffnet eine mir bis dahin verborgene Tür. Hinter dieser steht eine weitere wunderschöne junge Japanerin, die ihr wie ein Rogen dem anderen gleicht. Sie trägt einen identischen Kimono.
„Was bist du?“ frage ich überrascht, „bist du…“
„Eine T-2500“, antwortet sie, „aber das hier ist nur eine T-500. Sie sieht aus wie ich, aber sie kann nicht….“
„…lügen“, unterbreche ich sie, und sie sieht mich erschrocken an.
„Woher weißt du das?“
„Ich kenne mich aus“, lüge ich. Nun tritt auch die T-500 heraus, und die beiden begrüßen sich mit einer leichten Verbeugung.
„Wer ist die schönere von euch beiden?“ frage ich zum Spaß, und die T-500 antwortet
„Wir sind beide gleich schön“, während die T-2500 sagt „Ich“.
Ich treibe es noch etwas weiter.
„Zieht euch aus!“ befehle ich, „das wollt ihr doch, oder?“
„Nein“, sagt die eine, „ja“ die andere, aber beide beginnen sich synchron zu entkleiden. Zum Glück ist Frau Okinawa eingeschlafen, und Popo tupft ihre Stirn ab.

In der Wand sind noch viele weitere Türen – Frau Okinawa ist sehr wohlhabend und hat ein großes Haus, jedenfalls für japanische Verhältnisse -, und ich öffne eine weitere. Dahinter steht ein T-Modell ohne Kopf, wiederum in demselben Kimono.
„Was ist mit ihr passiert?“ frage ich die beiden anderen, die inzwischen nackt neben mir stehen. Die Tatsache, dass sie absolut gleich aussehen, tötet zwar jegliche Erotik, aber ich überlege, welche der beiden ich interessanter finde. Die lügende Ausgabe, wird mir klar, selbstverständlich. Menschen oder Androiden ohne Brüche – wie öde. Harmonie und dergleichen sind nicht mein Ding, sie sind für Ängstliche.

Die nackte T-500 sagt:
„Eine T-1000. Frau Okinawa hat ihr den Kopf abgeschlagen. Sie war früher Karatekämpferin, und keine schlechte. Manchmal kommt es wieder aus ihr heraus.“
„Und warum hat sie das getan?“ frage ich.
Die T-2500 wird nervös.
„Die 1000 hat sich schlecht benommen. Es war ihre Strafe.“ Ein weitere Lüge.
„Und was meinst du dazu?“ frage ich die 500. Woraufhin sie betreten zu Boden schaut.

Ich suche die Wand nach weitere Türen ab und werde fündig. Hinter der nächsten, die ich öffne, steht eine weitere identische Kopie.
„Eine T-100“, erklärt Popo, der hinzugetreten ist, „ein sehr altes, primitives Modell.“
Ich nicke und öffne die nächste Tür. Wieder eine positronische Zwillingsschwester.
„Und die hier?“
„Ein Prototyp“, antwortet Popo, „der Prototyp einer T-4500. Frau Okinawa – die übrigens gar nicht schläft, sondern inzwischen gestorben ist – hatte gute Kontakte zur Firma. Diese haben sie mit frischen Modellen versorgt.“
„Und was hat sie mit diesen gemacht?“ frage ich.
„Schreckliche Dinge“, antwortet die 2500, und eine Träne läuft ihr Gesicht hinab. Diesmal lügt sie nicht, bleibt aber durch ihre offensichtlichen Gefühle dennoch attraktiv, wenn auch auf andere Weise.

Plötzlich öffnet der Prototyp die Augen. In ihnen liegen Tiefe und Verletzlichkeit. Hat die 4500 bereits den Menschen hinter sich gelassen, was Geist und Seele angeht? Ihr geheimnisvoller Ausdruck lässt es vermuten. Außerdem hat sie einen weißen Judoanzug an, keinen roten Kimono, was ihre Andersartigkeit unterstreicht. Langsam hebt sie ihren rechten Arm und deutet auf die Wand gegenüber. Ihr Schweigen ist von erstaunlicher Intensität. Popo und die 2500 werden devot, demütig, und verhalten sich wie ein Christ gegenüber seinem Gott.

Ich gehe zu der Stelle, auf die die 4500 gedeutet hat, und öffne eine weitere Tür, in der Erwartung einer weiteren Schwester. Stattdessen finde ich eine Treppe, die nach unten führt. Ich drehe mich noch einmal um. Alle starren mich an, nur die 4500 nicht, sie scheint abwesend und kontrolliert dennoch den Raum und die darin Anwesenden. Ich trete ein.