Die Delegation

Schließlich wird es Abend – auch wenn der Nachmittag außergewöhnlich lange gedauert hat -, und wir beginnen mit der Errichtung eines Nachtlagers. Olga, die Pilotin, und Olga, die Flugbegleiterin, haben die Führung übernommen. Sascha kümmert sich um das Rotwild, das einen Kreis um das Flugzeug bildet und irgendwie bedrohlich wirkt. Die Tiere starren uns Menschen an wie besessen von einer unheimlichen Intelligenz.

Die grobschlächtigen Passagiere der Klasse unterhalb der Economy – allesamt ungehobelte Gesellen ohne Sinn für Humor, ohne Teamfähigkeit, ungebildet – können oder wollen sich nicht unterordnen und drohen, die Gruppe zu verlassen. In ihren Reihen sind schon des öfteren Streits ausgebrochen, die teilweise blutig endeten. Es gab drei Tote und acht Schwerverletzte, die dringend ärztlich behandelt werden müssen. Olga 2 – die Pilotin hat sich selbst als 1 gezählt, was Sinn macht, eine Pilotin ist mehr als eine Stewardess – erstellt eine Liste der Berufe und Fähigkeiten der Passagiere aller Klassen. Es sind einige Ärzte darunter, auch Psychologen und Architekten. Letztere haben mit der Konstruktion von Zelten aus Planen, die wir im Gepäckraum gefunden haben, begonnen, zunächst nur auf dem Papier. Sie haben sich sehr schnell untereinander zerstritten. Wir werden wohl im Freien übernachten.

Was ein Problem darstellt, denn es wird immer kälter, je tiefer die Sonne sinkt. Kurz nach 19 Uhr Ortszeit fällt Hans in ein Alkohol-Koma. Achtundzwanzig der Unter-Economy-Leute reißen sich ihre Kleidung von den Leibern und verschwinden in den russischen Urwald, von ihnen werden wir nie wieder etwas hören oder sehen, sie werden neue Arten bilden, die vielleicht auch irgendwann Intelligenz entwickeln, man wird sehen. Auch die Vierte Klasse hat sich zurückgezogen, niemand hat ihr Verschwinden bemerkt. Es waren Mitglieder der Kaste der Unberührbaren, sie haben Geld dafür bekommen, mit der Maschine zu fliegen – auf diese Weise versucht der oberste Sowjet, der niedrigsten Klasse der Union etwas Selbstbewusstsein zuzuschanzen. „Solange noch jemand unter dir steht“, lautet ein kasachisches Sprichwort, „ist dein Haupt oben.“ Der sowjetische Motivationsminister, Nursultan Aliyev, stammt aus Kasachstan und brachte das entsprechende Gedankengut ein (das allerdings nicht allen Kasachen gemein ist, die meisten sind sehr nett).

Es stellt sich heraus, dass die zwei schwarzen Schönheiten – inzwischen muss man sie wirklich als schön bezeichnen, betrachtet man den glänzenden Schweiß auf ihren muskulösen und dennoch feinen Körpern, die roten, lustvollen Lippen, die tiefen dunklen Augen – Besitzerinnen von Hotelketten sind, die anzupacken verstehen. Sie haben in Tokyo – also war es Tokyo und nicht Peking – Bettgestelle und Futons für eines ihrer neuen Hotels im Sudan erstanden (eigentlich wollten sie gar nicht nach Moskau, sie haben auf dem Narita Airport das falsche Flugzeug bestiegen; der Narita-Flughafengesellschaft war die Lizenz für die lateinischen Zeichensätze, die sie eigentlich auf ihren Anzeigetafeln verwendet, entzogen worden, und sie musste sich bis zur gerichtlichen Klärung darauf beschränken, Starts und Landungen nur noch auf Japanisch, Chinesisch und Koreanisch anzuzeigen, was viele Reisende und auch internationale Crewmitglieder verwirrte; Uhura, die jüngere der beiden Frauen, verstand zwar perfekt Mandarin, hatte aber ihre Brille im Hotel vergessen, und ihr unscharfer Blick konnte die Zeichen für Karthoum und Moskau nicht auseinanderhalten).

Die Schwarzafrikanerinnen brechen also einen der Frachträume der Iljuschin auf und beginnen, ihr besonderes Gepäck zu entladen. Der Ölprinz schickt ihnen zwei seiner Frauen zu Hilfe, die dritte fächelt ihm mit einem notdürftig genähten Fächer kühle Luft zu. Er hat den komatösen Hans ins Gras gelegt („Das ist besser für ihn“, hat er allen, die es hören wollten, auf arabisch gesagt) und sich nun selbst auf die Liege aus Fahrwerk niedergelassen. Nach kurzer Zeit stehen 280 Bettgestelle mit Futons in der Landschaft, notdürftig bezogen mit Laken aus Fallschirmstoff und uigurischer Bettwäsche mit Daunenfüllung, die sich zufällig im hinteren Teil des Frachtraum befand, vergessen auf einem Flug von vor 20 oder 30 Jahren. Da war Olga – beide Olgas – noch ein Kind.

Ich sehe, wie Olga 1 über eine Karte gebeugt ist und grübelt, während Olga 2 an einem Tisch sitzt, der aus einem der Höhenruder gebaut wurde. Sie hat die Verteilung der Betten übernommen, es hat sich eine Schlange gebildet. Die wenigen Passagiere der Business Class werden auf einer kleinen Anhöhe schlafen, etwas abgeschirmt vom Volk und mit mehr Platz um ihre Betten herum. Mit Vorfreude sehe ich, dass auch die Cabin Crew ihre Betten dort aufgestellt hat und dass beide Olgas die ihren rechts und links neben meinem platziert haben. Olga 1 winkt mich und Uhura zu sich, sie hat etwas gefunden, plötzlich.

„Schaut mal“, sagt sie, spricht dabei aber nur Uhura an, als wollte sie mich provozieren oder mir klar machen, dass mein Status etwas geringer ist, vielleicht aufgrund meines Berufs, an den ich mich – wohl wegen des Schocks, schließlich war ich in Lebensgefahr – nicht genau erinnere, wahrscheinlich habe ich gar keinen, sondern eher viele verschiedene, die ich aber allesamt nicht richtig beherrsche. Vielleicht will sie auch etwas anderes von mir und ist gespalten, weil ihr Mann – den sie mehr und mehr verachtet, wofür sie sich schuldig fühlt – im Sterben liegt, nicht weil er ernsthaft krank wäre (auf einen Russen hat Alkohol keine nennenswerte Wirkung), sondern weil er das Interesse am Leben verloren hat. Noch ist er nicht tot, sagt sie sich, und solange er noch lebt, fange ich keine neue Beziehung an, es sei denn er lebt noch sehr lange, mehrere Wochen vielleicht, das könnte ich nicht ertragen. Schließlich bin ich jung, zwar nicht mehr so jung, eher in der Mitte des Lebens, aber zu jung um neben einem frustrierten Alkoholiker einen tristen Alltag zu fristen. Dieser Mann hier, der ist eine Alternative, er gefällt mir. Deswegen habe ich dafür gesorgt, dass er neben mich gebettet wird, aber damit das nicht auffällt – und vielleicht auch damit eine gewisse Symmetrie, die mir entgegen kommt, auch ich habe Neurosen, hergestellt wird – habe ich die andere Olga an die andere Seite manipuliert. Ich muss aber aufpassen, der Mann scheint auch ihr zu gefallen; notfalls spiele ich meinen höheren Status aus. Das denkt sie, und sie sucht unsere Position auf der Karte, vielleicht möchte sie aber auch sicher sein, dass wir in keinem muslimischen Land gestrandet sind, nach dessen Gesetzen ich bis zu vier Frauen nehmen könnte, sollte es dazu kommen. Aber eigentlich ist sie, nein, sind wir alle uns sicher, dass es sich um Sibirien handelt.

„Schaut mal“, sagt sie also, „hier in einiger Entfernung gibt es eine Art Kiosk. Und sogar ein altes Kino. Wir haben zwar genug zu essen, aber alle Getränke sind bei der Bruchlandung umgekippt und ausgelaufen. Vielleicht könnten wir jemanden schicken, um etwas Sprudel, Kaffee und einige Karaffen Wein zu kaufen. Eine Delegation in die Ausläufer der hiesigen Zivilisation.“
Uhura nickt.
„Ich stelle ein Außenteam zusammen, wir brechen morgen in aller Frühe auf. Welche Währung gilt hier?“ Olga 1 denkt nach und sieht mich zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs an. Diese Chance will ich nutzen, um meinen Wert und meine Kompetenz zu beweisen und mir einen Platz in der Führungsebene zu sichern, und wenn nicht in der Führungsebene, dann doch wenigstens an einer der oberen Stellen. Die Tatsache, dass ich ein Ticket der First Class mein Eigen nenne, verliert nach und nach ihre Bedeutung, je mehr die Iljuschin zerfällt – ich muss handeln. Außerdem möchte ich von Olga (von Olga 1, aber eigentlich von beiden) nicht nur privat wahrgenommen werden, sondern auch professionell. Leider habe ich keine Ahnung vom aktuellen Thema, aber ich möchte etwas Wichtiges beitragen, mein Hirn ackert, ich versuche meinen Instinkt zu aktivieren und dabei gleichzeitig nachdenklich zu wirken, bis ich schließlich sage:
„US Dollar sind überall gern gesehen, ich würde sie aber mit Deutschen Mark ergänzen, die Kombination ist sehr stark.“ Einige Sekunden unerträglicher Spannung verstreichen, bis – das hätte ich nicht zu träumen gewagt – sowohl Olga 1 als auch Uhura nicken und letztere meint:
„Ich werde von jeder Währung einen Teil sammeln.“ Und auch einige Rubel, denkt sie sich hinzu.

Während die Vorbereitungen für den Einsatz laufen und ich noch im Rausch der mir zugewiesenen Anerkennung schwelge, schaut Fatima in den Himmel und stellt weitere Betrachtungen an, sinniert über das Leben. Ob, wenn es auf anderen Planeten Leben gibt, dieses dort ebenso funktioniert wie hier? Ob es ebenso aus Kampf, Unsicherheit, Sinnsuche und Unbehagen besteht? Oder ist es eher so wie in unseren Geschichten, unseren Filmen und Träumen? Muss das Leben so sein, oder gibt es andere Leben, Leben, die einfach reibungslos funktionieren und entspannt sind und dennoch intensiv…

Mir gefällt Fatima, aber ich werde keinen Kampf mit dem Ölprinzen riskieren. Außerdem müssen wir alle zusammenhalten, wenn wir überleben und morgen den Kiosk finden wollen. Die Olgas und Uhura diskutieren über die Zusammensetzung des Teams. Sascha, die nach ihrem kurzen, intensiven Herzkontakt mit dem Kitz wieder in ihre alte Persönlichkeitsstruktur zurückgefallen ist, läuft mehrmals an dem improvisierten Tisch vorbei, an dem unser Meeting stattfindet. Sie möchte eingeladen werden, dabei sein, Bedeutung haben. Gleichzeitig hat sie Angst, dann keine schlauen Dinge sagen zu können, sich vielleicht zu blamieren und in der Gunst Olgas der Ersten, deren Position sie noch vor kurzer Zeit am liebsten übernommen hätte, die sie inzwischen aber als Führerin akzeptiert, unwiderruflich zu sinken. Wir bitten sie aber nicht zu uns, zu gut fühlt es sich an, auf diese Weise bewundert und begehrt zu werden. Wir bleiben sogar länger als nötig sitzen und tun so als gäbe es noch allerhand zu besprechen, nur um uns noch etwas diesem Gefühl hingeben zu können, gegen das – das zeigt sich immer wieder – keiner von uns immun ist (außer einer buddhistischen Nonne, die einen Fensterplatz in der Economy hatte und unermüdlich damit beschäftigt ist, sich um die Verwundeten zu kümmern).

Es ist Zeit, schlafen zu gehen. Die Passagiere der Sub-Economy haben ihren Status verinnerlicht, sie versuchen gar nicht, an eines der Betten zu kommen. Die Passagiere der Economy empören sich ein wenig über die Behandlung der unter ihnen stehenden, bieten aber auch nicht an, die Betten mit diesen zu teilen, eher fordern sie vom Führungsteam – also von uns, obwohl ich mir meines Status nicht sicher bin -, es möge für die Sub-Economy ebenfalls Betten bereitstellen, es seien schließlich auch Menschen. Es bleibt jedoch bei der Forderung, was Olga 2 und Uhura längst wissen, weswegen sie kein bisschen reagieren.

Die Sonne scheint flach am Horizont stehen geblieben zu sein (eine Unlust schlafen zu gehen, ähnlich der eines Kindes – vielleicht ist unsere Sonne ein kosmisches Kind), während sie die Tundra in ein karmesinrotes Licht tränkt, dessen Dichte in der Luft bereits fühlbar ist. Die Bewegungen von uns allen werden langsamer, honigartiger. Der Dampf, der sich vor unseren Nasen und Mündern bildet, stabilisiert sich, wird manifester Atem, bildet Karikaturen von Wolken, die immer voller werden, je mehr wir ausatmen. Die Temperatur sinkt unter den Gefrierpunkt. Die wenigen verbliebenen Sub-Economy-Passagiere kuscheln sich im hinteren Teil des Rumpfes der Iljuschin, der noch relativ intakt geblieben ist, zusammen und bilden eine Einheit. Wir anderen putzen uns die Zähne – diejenigen jedenfalls, die Zahnbürsten in ihrem Handgepäck hatten und deren Handgepäck beim Aufprall nicht aufgeplatzt ist; die anderen starren sie neid an, nicht weil sie sich sonst die Zähne putzen, abends und morgens gar, nicht weil es ihnen um die Pflege ihres Zahnfleisches, Parodontose-Prophylaxe und diese Dinge ginge, sondern weil sich ein weiterer, wenn auch kleiner, unbedeutender (aber was ist in Dingen der Macht schon unbedeutend?) Hierarchieraum geöffnet hat – und bereiten uns auf die Nacht vor.